Nach dem Spaß

Blub Harf Zimmermann fotografiert Gestrüpp und Farne, wo mal ein Badeparadies war
Ausgabe 49/2019

Von sich aus bedeutet die Ruine nichts. Als Zeichen braucht sie Leser, die ihren Code entschlüsseln wollen, ihrer lautlosen, wunderlichen Sprache zuhören. Ein Blick auf Ruinen lässt die Modi der Zeit zusammenfallen, erst dann wachsen ihnen ästhetische Überschüsse, vielleicht auch Begriffe von Schönheit zu: Ruinen sind Zeichen einer noch nicht ganz verwehten Vergangenheit, ein Riss im Verlauf der Dinge. Der Kultur- und Literaturwissenschaftler Hartmut Böhme hat das eleganter formuliert: „Die prekäre Balance der noch sichtbaren Formbestimmtheit und der noch nicht endgültigen Formauflösung der Ruinen prädestiniert sie dazu, zur stummen Zeichensprache der Geschichte zu werden.“ Es gibt gebaute Ruinen, die eine idealisierte Vergangenheit typisieren, der Gegenwart vom Mangel an Idealität und Intaktheit erzählen sollen. Ruinen sind nutzlos, ihnen fehlt etwas oder ist ihnen genommen: eine Funktion. Ein ursprünglicher Zweck ist ausgezogen, transportiert als Fragment aber eine Erinnerung von Sinn und Weltsicht.

Gesellschaft auf Vollfettstufe

Entscheidend aber ist, dass Ruinen auch in eine Zukunft greifen, dort liegen ihre Möglichkeiten: zur semantischen Umdeutung, zum Umgang mit ihnen, zur ästhetischen Neusortierung. Aus diesen Möglichkeiten schöpfen sie den ästhetischen Überschuss: Den rauchenden Überbleibseln des World Trade Center in New York, dem vielfach zerschossenen Kabul, den Resten von Aleppo oder den zu Spuren reduzierten Städten von Murmansk oder Hiroshima würde niemand Schönheit attestieren. Wenn Ruinen einer Zukunft, die schon in der Gegenwart beginnt, nicht entgegenblicken können, zerfallen sie endgültig, gehen irgendwann in Landschaft über. Die Balance ist gekippt.

Genau diesen Prozess beobachtet der Fotograf Harf Zimmermann in seinen neuen Arbeiten. Wir lesen beiläufig, dass er von einem „Sebastian“ zur Reise animiert wird, packt und losfährt: Ein schon zeichenloses, gerade noch so aus den Wucherungen der Natur ragendes Hinweisschild weist wohl die Richtung – zu den Überresten des Berliner Luft- und Badeparadieses nämlich, zu einem verblühten Freizeitbad, zu gewesener Naherholung und Sorglosigkeit. Gekreisch gab es hier sicher einmal, Pommes-frites-Dunst, Bademeisterstrenge.

Das Blub hatte eine ziemliche Parabel hinter sich, Baukosten 44 Millionen Mark, mit Pomp eingeweiht Anfang 1985, stets von 10 bis 23 Uhr geöffnet. Für eine Saison zierte sein Logo die Hemdbrust der Fußballer von Hertha BSC. Das Blub war auch Zeichen kommunaler Selbstüberschätzung – Spaßbäder sind teure Haushaltsposten, dafür wird hinter Zäunen mit Rutschen, Becken und Strömung eine gezähmt plätschernde Natur suggeriert. Weit weg von spartanischen Trainingseinrichtungen mit frugaler Ästhetik steht in ihnen die Überhöhung des Freizeitgedankens im Zentrum; gern gebaut in und gefordert von einer Gesellschaft der Vollfettstufe, die gelegentlich Ratschläge der Weight Watchers diskutierte. Im Wesentlichen aber: Bespaßung, Erlebnis als staatliche Vollversorgung.

Nach Sinkflug und Schließung 2005 war es um die Bauten geschehen, das Blub zerfiel, Zimmermann konnte los: In Arbeiten zu Brandwänden hat er nach einer Poesie des Vergangenen, nach verwelkten Zeichen, ihren Resten und Botschaften gesucht. Das Blub öffnet sich ihm in seiner Sperrigkeit, mit zerfallenen Holzbrücken, zur Freudlosigkeit demontierten Spaßgeräten, zerbrochenen Räumen. Zimmermann arbeitet mit einer analogen Großbildkamera – selbst eine Art Anachronismus –, erste Bilderreihen verschaffen sich Überblicke: Einerseits sind da ganze Sekundärwälder gewachsen, andererseits ringen Sprayer wohl täglich um letzte freie Flächen. Die Spannung zwischen Zerfall, ephemerer Zwischennutzung und Verwilderung zieht sich durch die Aufnahmen: ein bunt verziertes, weitgehend entglastes Gebäude unter Schnee, davor die große Aufforderung „SEPIA!“, wohl ein Logo, irgendwie aber auch Rückblick und bunte Aufforderung zu Farbvereinheitlichung. Zimmermann wandelt mit seinem Namensvetter Bob Dylan hindurch, erkennt in einem der Wandbilder The Sad-Eyed Lady of the Lowlands.

Zukunft von Menschenhand

Es gibt wuchtige Wandbilder: Der Schnee fasst einzelne Flächen, Hinterlassenschaften und Zeichen wie unregelmäßige Passepartouts ein, ein Einkaufswagen steht da noch, als wäre er eben abgestellt und warte auf Kundschaft. Dann kommen Serien, in denen grüne Blattwelten sprießen; ab und an, etwa wenn wir unter raumgreifenden Stegbrücken stehen, scheint das Gleichgewicht zu den Möglichkeiten gewahrt: Schilf steht geordnet zu den Füßen der Brücke, Pfade führen durchs Dickicht. Eine ordnende Hand könnte hier gute Ergebnisse erzielen.

Schließlich übernehmen Wald, Farne, Dornenbüsche: Ein Pavillondach hebt sich nur noch mühsam übers unwegsame Gestrüpp, Wucherungen verleiben sich feste Formen ein, sprengen Beton. Müll kündet von Ausweglosigkeit, wir kehren in der Nacht zurück, Zimmermanns Blitz erhellt einzelne Facetten. Dann kippt das Gleichgewicht, die Zukunft schließt sich weniger durch die Kraft einer zweiten Natur als von Menschenhand: Brandstiftung macht der Ruine endgültig den Garaus, zuletzt findet die Kamera nur noch Reste.

Böhme schreibt, die Ruinenästhetik sei auf Untergang und Verschwinden bezogen, während sie durch eine „prekäre Form/Materie-Balance“ auf eigentümliche Weise die Zukunft offen halte. Wenn das Gleichgewicht dahin ist, verschwinden die Ressourcen, aus denen sich Erinnerung speist. Die lakonischen Aufnahmen von Harf Zimmermann, die niemals in die Gefahr von Ästhetisierung und Überhöhung drängen, keinem Impressionismus folgen und weitab aller Instagramability funktionieren, finden ein Memento mori: verkohlte, eingestürzte, unrettbare und zukunftslose Trümmer.

Info

The Sad-Eyed Lady Harf Zimmermann Steidl 2019, 136 S., 58 €

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