Sonntags ist München tot. Auf einer nassen Fahne steht: Schwabing – mehr als ein Gefühl. Kurz ab von der Leopoldstraße liegt die Bar Culina. Hier kann man über den Zierziegel nachdenken. Vermutlich ist vor 30 Jahren ein findiger Unternehmer durch Münchner Restaurants gelaufen und hat diese Zierziegel als italienischen Flair angedreht. Das Ergebnis waren grob weiß gekalkte Wände, dazu verschiedene Formationen von rot lackierten Ziegeln, zu nichts nütze außer zur Zierde. Zumeist verschwanden diese Sünden der Innendekoration auch wieder aus München, in der Bar Culina allerdings gibt es sie noch. Dazu rote Toilettentüren und Plastiklederbänke.
Ein wenig reden könne man hier, hatte W. A. Riegerhof gesagt, ungestört. Keiner da, der Barkeeper wäscht ein paar Gläser. Billy Idol singt. Riegerhof kennt die Stadt, scheint es.
Ankunft aus der Provinz
W. A. Riegerhof, geboren 1961 in Altaussee in der Steiermark, ist keiner, der befremdlich reagieren wird, wenn man ihn einen Asphaltliteraten nennt. Er selbst stilisiert die Hauptfigur seiner Erzählungen Münchner Feigheit und Bauchschuss Schwabing als „Straßenköter“, als „angeschossenen Tangotänzer“. Dieser Paul Lindner, ein kaum verhülltes Alter Ego von Riegerhof, verkehrt in Etablissements wie der Culina Bar und noch vielen anderen. Der Verkehr ist Riegerhofs Stoff, es geht um Halbseidenes, um Marschierpulver und allerlei andere Formen von Illusionen.
Münchner Feigheit ist zunächst die Geschichte der Ankunft Lindners aus der österreichischen Provinz, in München lernt er die Stadt lieben. Die Literaturgeschichte kennt den Topos der Sexualisierung der Stadt gut, Riegerhofs Paul Lindner durchläuft die Erregungszustände eines Landeis, ihm scheint die Stadt „fast zu ruhig, zu sauber, aber mit einem schmutzigen Unterton, der ihm gefiel.” Dieser Unterton spiegelt sich bald in drogeninduzierten Illusionen, es geht um Nähe und Gemeinschaft – und sei es mit Berbern unter Isarbrücken – und die „Sprache der Opiate“. Allerdings zerlegen sich diese Illusionen, Lindner entfremdet sich, erschrickt ob der sozialen Kälte. Und so pendelt er zwischen der Provinz-Angst vor Enge und der Sehnsucht nach Nähe einer idealisierten Provinz.
Bauchschuss Schwabing ist eigentlich ein späterer Spaziergang desselben Protagonisten, nur dass die Stadt kälter, glatter, langweiliger geworden ist. „Es war eine Generation herangewachsen, die zwischen Arbeit und Freizeit nicht mehr zu unterscheiden vermochte.“ Während die Münchner Feigheit einen Lebensweg durch die Nacht erzählt, bleibt Bauchschuss Schwabing nur noch die Reise ans Ende der Nacht: Ein Abschiednehmen ist es, von Figuren, Lebenswandel, Orten und Begegnungen. Ein recht elliptisches Stück Trauerarbeit. Nostalgie breitet ihre Schwingen über die schmalen Seiten.
Ein Mann betritt die Bar, tritt schmal aus dem braunen Staubmantel, behält das Sakko an und den braunen Filzhut auf. Gelegentlich streicht er sich den hellblauen Seidenschal unter weißem Hemd gerade, die dunkle Jeans hat helle Ziernähte, und die Stiefeletten denken an Cowboys und Schlangenleder, wenn man sie lässt: Wernfried Andriano Riegerhof.
Riegerhof erzählt vom Aufwachsen in einer tumben Welt, die den „Jagdszenen in Niederbayern“ in nichts nachzustehen schien. Aber, von Altaussee nach Zeltweg war es nicht weit, und so stand Riegerhof in den siebziger Jahren in der Boxengasse der Formel 1. James Hunt lud Riegerhof zur Wurst ein, und den Niki lernte er auch kennen. Und dann stieg Luca di Montezemolo vor seinen Augen aus einem Alfa Romeo, im Anzug und in einem Hemd, wie es das in der ganzen Steiermark nicht gab. Der Junge aus komplexen Familienverhältnissen, dem grobe Bauernjungenfäuste schon im Kindergarten das erste Mal das Nasenbein brachen, weil er „dem falschen Mädel schöne Augen gemacht“ habe, sah es und war eingenommen: Riegerhof kaufte sich selbst einen Anzug, stolzierte damit durch die Steiermark. „Ich wollte ein Künstler sein, bevor ich überhaupt wusste, was für eine Kunst mich interessierte“. Ins väterliche Geschäft wollte er nicht einsteigen; als Jugendlicher musste er erkennen, dass die Steiermark nicht der rechte Ort für Dandys war. Auch seine poetischen Versuche halfen wenig. Riegerhofs Weg ins Schreiben, das kurze Intermezzo in Wien und der Weg nach München sind Fluchten. Nach Schwabing kam er 1984 und merkte bald: knapp zu spät für die goldenen Zeiten.
Die Gesundheit litt
Also weiter, den Gedichten folgen Erzählungen, manches trägt er vor im kleinen Kreis. Im Stil knapp, Begegnungen und Begebenheiten bleiben unausgemalt, Situationen, Gedanken, Kommentare. Sie sind Teil einer männlichkeitssatten Welt, in der es um Unabhängigkeit, Stil und einen Freiheitsbegriff geht, der immer auch Freiheit von Alltagsdisziplin, Erwerbsarbeit, kurz: bürgerlichen Lebensentwürfen war. Darin liegt eine gewisse Würde, die man sich durch den Exzess erarbeitet.
Er findet in der Nacht statt, und Riegerhof ist ein Romantiker des Nachtlebens. Die Gesundheit litt, an all den Stoffen, die man sich unters Hütchen zwitscherte, und überhaupt an der langen Dunkelheit. „50 zu werden, war Pflicht“, sagt er, „alles danach ist jetzt die Kür.“ Es kommen ein Espresso und ein Helles: Für den Moment will Riegerhof harter Alkoholika entsagen, der Arzt hat es empfohlen und: „Die Nacht ist noch jung.“
Bei W. A. Riegerhof ist die Nacht Zufluchtsort und Projektionsfläche, hier entscheidet sich eine Wahrheit, sie ist der Ort der „Kunst des Lebens“. In der Nacht scheidet Riegerhof das Abenteuer vom Berufsleben, die Wildheit vom Spießer. Zwar postuliert Lindner diese Gegenüberstellung oft naiv und mit reduziertem literarischen Besteck, aber das Idealtypische erlaubt einen Blick auf den Wandel, den München durchmacht. Das Barocke scheint weniger ausladend zu werden, das Verschiedene ärmer, der Laissez-faire versiegt. Ein anderes Personal bevölkert die Nacht. Es ist auf Event und Wochenende fixiert. In der Nacht leben heute nur noch die allerwenigsten in München.
Später in der Tanzbar Paradiso, die Sitze sind so rot wie die der Bar Culina und ebenso aus Plastik. Auch: Der Laden ist leer. Nur die Zierziegel fehlen. Die Tanzbar Paradiso: wirkt, als hätte jemand eine Tabledance-Bar gekauft, feucht durchgewischt und sie mit Lebkuchenherzen vollgehängt. Vielleicht hat er auch nur eine Tabledance-Bar in eine übervolle Lebkuchenherz-Bäckerei renoviert.
Stadtsoziologen haben festgestellt, dass München sich selbst als Versöhnung zwischen Stadt und Land sieht – weshalb sich der zugezogene Kleinstädter am Ende womöglich nur in einer größeren Kleinstadt wiederfindet. Hübsch ist sie und harmlos. Die Geschäfte schließen früh, Restaurants machen am Nachmittag die Küche zu. Wenn man mit dem Rad über eine rote Ampel fährt, kann es passieren, dass einem ein älterer Mann auf dem E-Bike nachstellt und lauthals beschimpft. In München sind die Innenstadtmieten auf ein Niveau gestiegen, das bald mit Kapitalen wie London und Paris mithalten kann, in einer Stunde ist man in einer abgeschiedenen Welt aus Bergen und Kühen.
Riegerhof bestellt Espresso und verdünnt Wodka mit Redbull. „Die Orte, die ich beschreibe, gehen ein“, sagt er. Paul Lindner reist nach Berlin, dort gefällt es ihm nicht. In Prag bleibt er eine Weile. Aber nirgends gehört er dazu, überall ist er ein wenig spät und ein wenig falsch. Währenddessen schließen im realen München Bars, die als Wallfahrtsorte des Nachtlebens funktionierten, in der sich Kulturschaffende mit den Schönen der Nacht trafen. Ein simpler Prozess, erzählt ein Wirt am Gärtnerplatz, Häuser werden renoviert, Wohnungen verkauft, junge, gut verdienende Familien haben andere Interessen als die laute Kneipe im Vorderhaus. Ob Paul Lindner es in der Stadt aushalten wird, ist nicht eindeutig, „es wird eng“, sagt Riegerhof und zögert, „langweilig.“ Allein, aus München wegziehen, kann er sich schwer vorstellen.
Knapp über Wasser
György Konrád hat einmal geschrieben, dass die Großstadt für Erwachsene das sei, „was für das Kind der Rummelplatz ist.“ Während man sich denken kann, dass aus Kindern Erwachsene werden, die den Rummelplatz irgendwann über haben, trauert Riegerhof ihm hinterher. Und lebt weiter seinen Gegenentwurf zur Welt aus Daseinsvorsorge, Bausparverträgen und geregelter Arbeitszeit. „Mit Bukowski-Jobs“ halte er sich über Wasser, wie knapp, sagt er nicht. Auch in den literarischen Betrieb, in dem es oft um ausgefeilte Exposés, Aktstrukturen und nicht selten um Identifikationsmuster geht, passt Riegerhof nicht recht. Seine Texte erscheinen als Books on demand.
Am Ende von Bauchschuss Schwabing beobachtet Lindner die neue Generation in Schwabing, mit ihren Träumen hat er nicht mehr viel gemein. Zuvor hat Riegerhof die Namen der Auftretenden nur notdürftig kaschiert, einige Aspekte drifteten in die Kolportage, der Begriff Schlüsselroman wäre zu groß: Paul Lindner ist eine Art erzählerisches Selfie, eine Selbstaufnahme des Autoren in der Neo-Verbürgerlichung einer sowieso schon bürgerlichen Stadt.
Auf einen Schlag wird es voll in der Tanzbar Paradiso, das Oktoberfest hat zum letzten Mal seine Pforten geschlossen, und ein Publikum knapp über Studentendenalter drängt herein. Fast alle tragen Tracht oder zumindest, was sie dafür halten. Die Musik wird lauter, die Stimmung ausgelassen – es ist Zeit zu gehen. Riegerhof bleibt noch ein wenig, er trägt heute einen feinen Janker aus der Steiermark. Und doch wirkt er fremd auf dem roten Plastikleder: Ein schmaler Mann, mit Stiefeletten, Halstuch und einem Hut aus kurzem gebürsteten Filz. Er scheint wieder einmal übrig geblieben.
Die Bücher von W. A. Riegerhof findet man auf epubli.de Lennart Laberenz schrieb im Freitag zuletzt über Literatur aus Brasilien
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.