Man kann diese Geschichte auf Rügen beginnen, hier in Mukran, dem Industriehafen von Sassnitz. Man könnte sie aber auch von Moskau aus erzählen. Oder von Berlin oder Washington D. C. Ein Schiff aus Katar, das einmal im Monat im polnischen Świnoujście anlegt, spielt eine Rolle. Es kommt aber auch ein Naturschutzgebiet in der Nähe von Sankt Petersburg vor. Und Rügener Bauern, die ihren Boden für Umwelt-Kompensationsleistungen hergeben sollen und Enteignungen fürchten. Außerdem Umweltschützer in Stralsund – und Vorstandsvorsitzende, Analysten, Energielobbyisten, Politiker in Berlin, Brüssel, Warschau, Kiew, Stockholm und Kopenhagen.
Über 200 Unternehmen in 17 Ländern sind mit dieser Geschichte verknüpft. Sie schweißen Rohre in Mühlheim, vermieten Schiffe aus einem Büro in der Schweiz, schreiben Umweltstudien in Norwegen, bauen Ventile in Italien, mischen Spezialbeschichtungen in Großbritannien. Zu der Geschichte gehören Geldgeber, Genehmigungsbehörden, Regionalpolitiker, Minister und America-First-Verfechter. Sie alle sind verwoben zu einem nervösen System, in dem sie ständig aufeinander reagieren. Es geht um Europas Hunger nach billiger Energie, um Interessensphären, Weltpolitik – und um irrsinnig viel Geld.
Beginn ohne Genehmigung
Doch wenn man mit Schutzhelm, Plastikbrille und Stahlkappenschuhen im Industriehafen von Mukran umherläuft, sieht man erst mal nur ruhige, gleichmäßige Bewegungen: Tieflader fahren immer wieder Rohrstücke einen kleinen Hügel hinauf. Die Rohre, knapp ein Meter Durchmesser, zwölf Meter lang, zwölf Tonnen schwer, werden oben in einer Fabrik mit Beton ummantelt. Danach wiegen sie das Doppelte und werden den Hügel wieder hinabgefahren. Ein mächtiger Stapler hebt sie auf längliche Haufen. Auch im finnischen Kotka werden solche Rohre beschichtet und im schwedischen Karlshamn gelagert. Ab kommendem Januar sollen drei gewaltige Schiffe 200.000 Rohre zur Pipeline Nord Stream 2 zusammenschweißen. Gesamtvolumen für Bau und Finanzierung: 9,5 Milliarden Euro. Bis zu 55 Milliarden Kubikmeter Gas sollen ab Ende 2019 so jährlich nach Mecklenburg-Vorpommern strömen.
Die Pipeline geht von Russland nach Deutschland. Sie verläuft größtenteils neben der Pipeline Nord Stream 1, deren Bau maßgeblich von Gerhard Schröder vorangetrieben wurde. Der SPD-Altkanzler hat auch den Vorsitz des Verwaltungsrats der Gazprom-Tochter Nord Stream 2 übernommen. Man kann mit all dem, was hier passiert, sehr viel Geld verdienen und verteilen. Oder verlieren.
Hinter Bau und Eingriff in die Natur, schreibt das Unternehmen Nord Stream 2 im Antrag zur bergrechtlichen Genehmigung, stehe „überwiegend privates Interesse“. Das Unternehmen warnt vor Verzögerungen durch „Rechtsbehelfe Dritter“, wenn deren „Erfolgsaussichten unklar oder gering seien“. Jede Verzögerung verursache hohe Kosten. Das klingt wie eine Drohung. Wenn man bei Nord Stream 2 nachfragt, warum denn, ohne dass die Genehmigungsphase abgewartet wurde, Rohre bestellt, ummantelt und aufgeschichtet werden, sagt der deutsche Pressesprecher Steffen Ebert mit professioneller Miene, dass dies ein professioneller Prozess sei. Ebert trägt im Industriehafen Mukran einen weißen Helm, er zuckt mit den Schultern: „Unternehmerisches Risiko“ nennt er die bereits ummantelten Rohre. Und den Zeitplan, ein knappes Jahr nach Beginn des Planfeststellungsverfahrens mit dem Bau beginnen zu wollen, bezeichnet er als „sportlich“.

Karte: Der Freitag
In der Werbung für das Projekt malt Nord Stream 2 ein Bild von gleichbleibendem Gas-Bedarf in der EU bei langsam wegfallender europäischer Produktion bis 2050. Aus Nordafrika käme weniger Gas, die Southstream-Pipeline sei nicht gebaut worden, ergänzt Ebert. Es brauche russisches Gas für Europas Planungssicherheit.
Dagegen geht die Bundesregierung in einer Projektion bis 2035 von einer um zehn Prozent reduzierten Nachfrage aus. Außerdem hat sie sich 2015 zum Pariser Klimaabkommen verpflichtet: Deutschland und die EU wollen bis 2030 den Energieverbrauch um 27 Prozent reduzieren und ein Drittel weniger Treibhausgase in die Luft jagen. All das muss die Firma Nord Stream 2 nicht interessieren, aber auch die Bundesregierung scheint das beim Blick auf die Pipeline nicht so wichtig zu finden. Auf eine Kleine Anfrage der Linken antwortet sie: „Durch eine Nord-Stream-2-Pipeline würden die Lieferwege weiter diversifiziert, da eine zusätzliche Gastransportmöglichkeit geschaffen würde.“
Nord Stream 2 wird zu hundert Prozent von Gazprom betrieben. Die fünf größten Energiekonzerne Europas beteiligen sich aber mit je zehn Prozent an der Investition. Auch hinter Nord Stream 1 stand Gazprom. Sehr divers ist das nicht. Das Bundeswirtschaftsministerium hält die neue Leitung für ein kommerzielles Vorhaben. So lange, wie alle Rechtsvorschriften eingehalten würden, gebe es nicht mehr dazu zu sagen. Die Landesregierung Mecklenburg-Vorpommern steht hinter dem Projekt.
Auch das Umweltministerium ist still. „Barbara Hendricks hat in Paris vor Freude geweint. Aber wenn es hier zum Schwur kommt, ist von ihr nichts zu hören“, sagt Jochen Lamp, der das kleine WWF-Ostseebüro Stralsund leitet. Lamp ist ein Mann mit weißen Haaren und hellem Lachen. Er trinkt Kaffee aus der Thermoskanne und mischt milde Entrüstung in seine Stimme. Ihn ärgert, dass bei Lubmin die Leitung mit einem teuren Mikrotunnel an Land geht, in Russland aber eine Schneise durch ein Umweltschutzgebiet gegraben würde. An der Kurgalsky-Halbinsel, südwestlich von Sankt Petersburg geht es durch ein international geschütztes Biosphärengebiet.
Der WWF hat eine Stellungnahme abgegeben, in der er feststellt, die Pipeline sei ein überflüssiger Eingriff, für den internationale Übereinkünfte beiseitegeschoben und russische Umweltgesetze gebrochen würden. Die in Aussicht gestellten Kompensationsleistungen seien zu vage. Meeresschutz und Klimaabkommen sprächen gegen das Projekt. Alternativen Energien mache die Pipeline außerdem das Leben schwer. Der WWF und Jochen Lamp sagen daher: „Wir sind gegen den Bau.“
Eine grundsätzliche Dimension
Nord Stream 2 ummäntelt sein wirtschaftliches Interesse nicht: Es gibt weltweit wenige Vorhaben, bei denen rund zehn Milliarden Euro Investition in einer Dekade wieder reinkommen. Mit der Leitung fallen Transitgebühren in der Ukraine und Polen weg, weshalb diese Länder auch scharfe Kritiker der Baupläne sind. Die Kritik kontert Mario Mehren, Vorstandsvorsitzender des Investors Wintershall, geradeheraus: „Gastransporte sind kein Beitrag zur Haushaltskonsolidierung von Drittstaaten.“
Das Ringen hat eine grundsätzliche Dimension: Es geht darum, wie viel Gas für Energie und Wärme durch feste Infrastruktur mit längerfristigen Verträgen aus Russland nach Deutschland und Europa kommt. Und wie viel Gas verflüssigt auf Schiffen zu Marktpreisen von wechselnden Anbietern bezogen werden soll.
Bevor aber dieses Verhältnis klar werden kann, zeigt Pressesprecher Steffen Ebert zunächst eine Lücke. Er hat sie auf einer Folie eingetragen und wirft sie mit einem Projektor an die Wand eines Konferenzraums. Die Lücke klafft zwischen blauen Balken, in denen „Machbarkeitsstudie“, oder „Untersuchung und technische Planung“ steht. Die Überschrift der Folie lautet: „Das Projekt schreitet voran“. Alle Balken stoppen abrupt Ende 2014. Sie beginnen erst wieder im letzten Quartal 2015. Die Lücke ist eigentlich ein Schatten. Im Jahr zuvor hatte Russland mit Soldaten ohne Hoheitszeichen und Sondereinsatzkommandos die Krim annektiert und Separatisten in der Ostukraine mit Soldaten und Waffenlieferungen unterstützt.
Im Herbst 2015, sagt Ebert, habe man die Planung wiederaufgenommen. „Man“, das sind „die Gesellschafter von Nord Stream 2“. Mehr Nüchternheit geht nicht. Die Annexion der Krim, der Krieg in der Ostukraine, Landgewinne, Bombardements, ein mutmaßlich von Separatisten mit russischer Buk-Rakete abgeschossenes Passagierflugzeug: Der Schatten ist nur eine Kunstpause. Nur ist die Situation für die blauen Balken, die nach der Lücke wieder einsetzen, nicht mehr dieselbe wie zuvor. Während vorher viele über Schröder, Nord Stream 1, Gazprom und Putin leise grummelten, herrscht nach der Lücke offene Antipathie. Die Annexion der Krim und der Krieg im Donbass sind ein Kulminationspunkt im Umgang mit Gas – nur geht es dabei nicht in erster Linie um die Ukraine.
„Es geht um Energie-Sicherheit“, sagt Anna Starosta, Pressesprecherin von Gaz-System, der staatlichen Firma, die den Flüssiggas-Terminal im polnischen Świnoujście betreibt. Flüssiggas ist um den Faktor 600 komprimiertes Erdgas, es wird auf minus 160 Grad Celsius heruntergekühlt. In Świnoujście wird es wieder gasförmig gemacht, um es über Pipelines weiterzuschicken. Oder noch flüssig in Lastwagen geleitet. Gerade pumpen sie das Tankschiff aus Katar vorn an der Mole leer – die 200.000 Kubikmeter könnten ganz Polen für drei Tage mit Wärme und Energie versorgen, hat die Pressestelle ausgerechnet.
Im Lastwagen nach Estland
Wir finden einen ruhigen Ort in einem Außenbüro von Gaz-System und Anna Starosta erzählt von Lastwagen, mit denen sie nicht gerechnet hatten. Bis zu 15 sind es mittlerweile täglich, sie liefern bis nach Estland. Auch das ist ein Ergebnis des Schattens auf Eberts Folie: Die Esten könnten es sich einfach machen und einen Vertrag mit Russland unterschreiben. Sie lassen lieber Lastwagen mit Flüssiggas von Świnoujście losfahren. Als Teil ihrer Energie-Sicherheit. Starosta lacht, sie sagt noch einmal: „Damit haben wir nicht gerechnet.“
Estland ist ein Beispiel für die Angst vor Russland, die vor allem in Osteuropa das politische Klima bestimmt. Sie schillert durch viele Diskussionen: Haben die Russen nicht versucht, Wahlen in den USA und zuletzt Frankreich zu manipulieren? Greifen nicht Hacker im Auftrag des russischen Geheimdiensts andere Staaten an? Wieso sollte Russland dann Infrastruktur nicht nutzen, um Politiker, Regionen und ganze Länder unter Druck zu setzen?
Diese Angst kommt der polnischen Regierung sehr gelegen, sie hat in der EU sehr laut gegen Nord Stream 2 getrommelt. Die Leitung ist eine Konkurrenz zum Flüssiggas-Terminal von Świnoujście, bei dem die EU ein Viertel der Baukosten übernahm. Seit 2006 macht sich Polen von Gazprom unabhängig. Schon jetzt könnten in Świnoujście fünf Milliarden Kubikmeter flüssiges Gas pro Jahr umgesetzt werden, eine Erweiterung auf 7,5 Milliarden Kubikmeter ist geplant.
Anna Starosta hat einen Prospekt dabei. Darin kann man lesen, dass im Moment hier neben Lieferungen aus Katar auch Flüssiggas aus Norwegen ankommt, aber auch Erdgas aus Deutschland, der Ukraine, Weißrussland und der Tschechischen Republik. Also indirekt aus Russland. Denn Gas kann hier gelagert werden. Świnoujście ist ein Knotenpunkt für die Gasverteilung. In Europa gibt es 20 solcher Anlagen. Der Terminal in Świnoujście ist bisher nur zu einem Drittel ausgelastet.
Von hier möchten Gaz-System und die staatliche PGNiG Erdgas in die Ukraine und die Slowakei exportieren, nach Litauen und Tschechien. Auch die Baltic Pipeline wollen sie beliefern und sogar an eine Leitung bis auf die kroatische Insel Krk hatte die Regierung gedacht. Polen hat mit Gazprom noch einen Vertrag bis 2022 und bekommt Transitgebühren für die Durchleitung nach Deutschland. „Ich glaube, in Polen kann man nicht verstehen, warum sich Deutschland so fest an Russland binden will“, sagt Starosta. „Wir haben festgestellt, dass mit der Flexibilität auch mehr Freiheit entsteht. Wir können wählen.“
Auftritt Donald Trump
Steffen Ebert ist sicher, dass polnische Politiker die Angst vor Russlands Einfluss gezielt schüren. Dagegen hat er beschwichtigende Zahlen. Eine Zahl zeigt, dass nur sechs Prozent des verbrauchten Gases in Europa aus Russland kommen. Nach einer DIW-Studie ist die europäische Infrastruktur derart flexibel, dass nur in der Ukraine und Bulgarien eine russische Blockade zu Problemen führen würde. Allerdings, listet die Studie auch auf, baue Gazprom „systematisch seine Beteiligung an der europäischen Erdgaswirtschaft aus“.
Auftritt Donald J. Trump, der mit allen Mitteln die US-Wirtschaft pushen will, aber auch wiederholt bekundet hat, ein besseres Verhältnis zu Russland anzustreben. Der Kongress hat Trump, der wegen der Einflussnahme der Russen bei den US-Präsidentenwahlen stark unter Druck steht, gerade dazu gezwungen, ein Gesetz zu unterzeichnen, das Sanktionen gegen Russland verhängen will. Es zielt vor allem auf den Energiemarkt. In den USA fracken Unternehmen Gas aus Schiefergestein.
Seit 2005 ist der Anteil der Gasproduktion aus Schiefer so überproportional gewachsen, dass die USA kein Gas mehr importieren müssen. Analysten haben aber festgestellt, dass die Ausweitung der Fracking-Technologie ein Problem mit sich bringt: Die rasch sinkenden Preise schmälern die Erträge der Konzerne empfindlich. Über Umweltkosten bei der extrem belastenden Fracking-Methode sprechen solche Analysten erst gar nicht.
Eine Strategie des Stabilisierens der Preise ist simpel: Erdgas zu verflüssigen und es auf Kühlschiffen zu verschicken. Dadurch wird Gas teurer. Je mehr Länder und Menschen man überzeugen kann, Gas aus den USA zu kaufen, desto stärker steigen die Erträge der Unternehmen. Ein Anruf bei einem skandinavischen Energieexperten in Brüssel. Nein, sagt der freundliche Mann: „Was da gerade geschieht, ist nicht von der Politik der Regierung Obama zu unterscheiden. Es klingt nur anders.“ Im Juni fuhr das erste US-Kühlschiff mit Flüssiggas nach Europa. Der US-Energieminister Rick Perry begleitete es mit Twitter-Botschaften und dem Hashtag #EnergyDominance.
Verlängerung des Kreml
Am Tag, nachdem Donald Trump das Sanktionsgesetz unterschrieben hat, spricht Anna Starosta in dem Büro in Świnoujście von Freiheit. Wenig später, bei einem Spaziergang an Einfamilienhäusern entlang, wird jemand davon erzählen, dass in Warschau in der Nacht wegen des US-Gesetzes sicher die Korken geknallt hätten. Der Mann will seinen Namen nicht in der Zeitung sehen, auch er arbeitet für einen Staatsbetrieb. Was er erzählt, lässt sich so zusammenfassen: Die polnische Regierung möchte das Land weiter zur Drehscheibe für Gas ausbauen. Sie will, solange es geht, von Transitgebühren profitieren und mehr EU-Gelder für den Ausbau der Infrastruktur bekommen. In den Warschauer Ministerien hielten sie EU-Politiker für Dummköpfe, die sie nicht fürchten müssten. Und die Freiheit, von der Anna Starosta sprach? „Ein schönes Marketingmittel. Die Anlage in Świnoujście war eine große Investition, man kann damit viel Geld verdienen. Diese Freiheit meinen sie.“ Die Angst vor Russland? Der Mann lacht. Das sei Taktik.
Zur Taktik gehört, dass in der EU zwischen Rat, Kommission und Parlament jetzt über ein Verhandlungsmandat zu Nord Stream 2 und Energiesicherheit beraten wird. Die EU-Kommission will direkt über Gas und Nord Stream 2 mit Russland verhandeln, obwohl die eigenen Rechtsexperten davon ausgehen, dass dafür legal wenig Raum existiert. Zur Taktik gehört auch, dass die polnische Kartellbehörde Genehmigungen bei Nord Stream 2 so lange verzögert hatte, bis die europäischen Energiekonzerne nur noch als Investoren auftreten wollten und die Pipeline zum Gazprom-Projekt wurde. Diese Taktik, sagt der Mann aus dem Staatsbetrieb, sollte es der EU leichter machen, sich gegen Russland und Gazprom zu positionieren.
Agnia Grigas hat gerade ein Buch über die russische Geopolitik mit Erdgas veröffentlicht. Grigas ist in Litauen geboren, promovierte in Internationalen Beziehungen in Oxford und lebt in Washington D. C. Ihre zahlreichen Arbeiten zur russischen Energiepolitik gehen davon aus, dass die staatlichen und halbstaatlichen Unternehmen eine Verlängerung des russischen Staates seien, genauer: des Kreml.
Grigas untersucht das, was sie ein „neues russisches Imperium“ nennt. Das Ringen um Einfluss in den Nachbarstaaten, die Idee eines Großrussland. Dabei spielen weiche Formen eine wichtige Rolle, eigene Medien, die die russische Version von Ereignissen verbreiten, sowie gezielt gestreute Fake News. Aber auch harte Infrastruktur und Wirtschaftspolitik. „Gas ist im Vergleich zu Öl viel politischer“, sagt Grigas. Die Versorgung mit Gas sei in einigen osteuropäischen Ländern ein direktes Druckmittel. Man denkt vor diesem Hintergrund an Barack Obama, der sagte, dass Russland nur noch Regionalmacht sei. Das sollte kränken. Als bedrohlicher wahrgenommen wurde aber in Russland das Heranrücken von NATO und EU an die Westgrenzen.
Gas als mächtige geopolitische Ressource?
Schon Nord Stream 1 wäre eine Antwort darauf gewesen, dass die baltischen Staaten die Seiten gewechselt hatten. Heute seien vor allem die Ukraine und Bulgarien mit schwachen Regierungen durch das Gazprom-Monopol verwundbar. Wenn die Bevölkerung im Winter in den Plattenbauten friert, wendet sie sich von streitenden Politikern ab und warmen Versprechen zu.
Folgt man Grigas, ist die russische Antwort auf all die als Kränkungen empfundenen Entscheidungen der EU und der NATO ein neuer, digitaler und wirtschaftlicher Partisanenkampf. Jede Infrastrukturmaßnahme, jeder Handelsvertrag sei ein Ringen um Einfluss. Gas als mächtige geopolitische Ressource in diesem Kampf? „Absolut“, sagt Grigas.
Das führt zurück zur Lücke in Steffen Eberts Folie: die Turnübungen der EU-Politiker, die Verrenkungen der deutschen Politik, das Beiseiteschieben von Umweltkonventionen. All das, weil Unternehmen und Einzelpersonen völlig unbeeindruckt Geld verdienen wollen – und damit Politiker Energiesicherheit und Arbeitsplätze versprechen können. Das nervöse System aus Interessen unterläuft jeden Versuch von Moral. Und wenn es keine Strategie gibt, zerfällt die Welt in Taktiken.
Also noch mal zurück zu dem Umweltschützer Jochen Lamp. Er hat von der „fehlenden Waffengleichheit“ gesprochen, davon, dass man im Meer vieles machen könne, was an Land längst unmöglich sei. Das Meer würde vor allem als Wirtschaftsraum genutzt. Was unter der Oberfläche geschehe, interessiere kaum jemanden. Wer hier zuerst Fakten schaffe, habe gewonnen.
Herr Lamp, ist also der Schatten des Ukraine-Krieges gar nicht so dunkel? Sind all die Umweltvereinbarungen, all die Klima-Abkommen völlig gleichgültig? Lamp kratzt sich am Kopf, aus seinem Fenster blickt er übers Wasser. Er ist Umweltschützer, also Auseinandersetzungen gewohnt, bei denen er an den Rand gedrängt wird. Er sagt: „Wir wissen, dass wir mit diesem Thema keine Wahlen gewinnen können.“
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