Wo soll man anfangen? Der Lieferschein vermerkt das Gewicht: 16.950 Gramm. Ziehen wir ein paar für die Verpackung ab, bleiben deutlich über 16 Kilogramm für etwa 1.000 Fotografien in zehn Bänden: William Eggleston, The Democratic Forest. Vor fast 30 Jahren als schlanker Band von etwa 150 Seiten erschienen, versammelt der voluminöse Schuber aus dem Steidl Verlag jetzt einen weiten Ausblick auf den Werkkörper aus insgesamt über 12.000 Aufnahmen.
Eggleston, geboren 1939 in Memphis, aufgewachsen in Tennessee, lebt noch immer dort. Er ist einer der schulbildenden Fotografen des vergangenen Jahrhunderts, und die Aufnahmen, die er Mitte der 80er Jahre machte, gelten als seine dichteste, komplexeste Serie. Nach ein paar Stunden mit den zehn Bänden steht fest: Die Wege in den Democratic Forest waren lang.
Vollkommen banal
Da sind einerseits Egglestons frühe Bildergruppen, eigentlich Reisen durch den Alltag. Man kann sofort feststellen, wie sehr er später im Democratic Forest von diesen Aufnahmen abgerückt ist. Die frühen Arbeiten Before Color zeigen noch, wie er von Henri Cartier-Bresson probiert hat, nach entscheidenden Augenblicken sucht. Die Aufnahmen in der nächsten, lose Chromes genannten Serie aus den späten 60er Jahren bevorzugen noch das Bildzentrum und sind schlichter in ihrem Erzählinhalt.
Aber auch sie waren ein Meilenstein. Aus der Chromes-Reihe hatte der damalige Direktor der fotografischen Abteilung des New Yorker Museum of Modern Art, John Szarkowski, die Aufnahmen für die erste Kunstausstellung mit Farbaufnahmen überhaupt gewählt. Zu einer Zeit, als man sich wahlweise noch an Walker Evans hielt, nach dem Farbfotografie mit Kunst unvereinbar, weil vulgär sei; oder an Robert Franks Ausspruch „Schwarz und Weiß sind die Farben der Fotografie.“ Egglestons Bilder erschienen ihm perfekt, schließt Szarkowski seinen Essay für den Begleitband der Ausstellung von 1976: „Als unzerlegbare Surrogate für die Erlebnisse, die sie vorgeben aufzuzeichnen, visuelle Analogien für die Qualität eines Lebens, als Sammlung ein Paradigma für einen privaten Blick; einen Blick, den man für unaussprechlich hielt, hier beschrieben mit Klarheit, Prallheit und Eleganz.“ Die New York Times fand die Bilder „perfectly banal“. Die Kritiken zur Schau waren katastrophal.
Farbfotografie war damals kommerziell geprägt, wurde in Studios komponiert, mit klaren Botschaften versehen. Egglestons Bilder stammten in einer doppelten Weise aus einer fernen und ungekämmten Welt: den Städten, Straßen und Wohnzimmern des Südens der USA. Eine bildgewordene Sammlung von Begegnungen, Beobachtungen und Blickwinkeln des Fotografen selbst. Egglestons folgende Serie Los Alamos machte ästhetische Anleihen bei der populären Fotografie. Er wurde zum Paten dessen, was in den USA als vernacular photography gilt – also die Privatfotografie, die eng an die Mundart oder den Dialekt gebunden ist. Ganz nebenbei beobachtete er, wie Werbemittel, Neonschrift und große Einkaufszentren immer weiter in den Süden vorrückten.
Schon da zeigt sich ein deutlicher Unterschied zu einem anderen großen Reisenden: Robert Frank hatte für The Americans (1958) ein Land besichtigt, aus dem er nicht stammte und in dem er hinter der gloriosen Fassade des Weltkriegsgewinners eine andere, teils triste, teils absurde Realität entdeckte. Eggleston dagegen bereiste seine Heimat. Seine Aufnahmen sind karger, uneindeutiger, eher kein Kommentar. Wir tauchen ein in eine private Welt. Vielleicht, weil diese in der ärmsten und konservativsten Region der USA liegt, wirken die Bilder heute auch dramatisch, politisch, ironisch und sarkastisch.
All dies spielt in die Aufnahmen des Democratic Forest hinein, und doch weitet sich der Blick. Die Ränder werden stärker bevölkert, zugleich entleeren sich die Bilder von klaren Erzählinhalten. Zeichen, die alle für sich stehen, aber nicht durch eine Bedeutung zu belegen sind, nehmen zu. Eggleston teilt Licht und Landschaft mit William Faulkner und knüpft in der Reihung der Bilder an den Bewusstseinsstrom an, der Faulkners Erzählungen durchstreift, ohne dessen Symbolismus zu teilen. Gelegentlich schimmert das am Schattenwurf von Edward Hopper geschulte Auge durch, allerdings hebt Eggleston die Gegenständlichkeit der Bilder immer stärker auf. Er transferiert den Zyklus in die Abstraktion aus Farbspielen, Rhythmen, Mustern. Mit dem Democratic Forest verabschiedet er sich von seinem früheren Modus, den man salopp als lakonischen Realismus umschreiben könnte.
Gleich in den ersten Aufnahmen des zweiten Bands The Language wird klar, was folgt. Drei Autos stehen da, hingestreut, links wartet ein schwarzes Oldsmobile mit weißem Dach vielleicht auf die freie Ausfahrt. Rechts ein blauer Pick-up und ein weißes Auto, alle drei sind nur angeschnitten und verbinden sich mit dem Weiß und Blau der Häuser im Hintergrund.
Frei von Zeigestolz
„Ich habe immer das Gefühl“, sagte Eggleston einmal, „dass Rot irgendwie im Krieg ist mit anderen Farben.“ Und tatsächlich bietet der zweite Band einen Schlüssel für alles, was kommt. Der grellrote Lappen über dem grünen Wagen, Farbverläufe des Dachs ziehen sich von Braun bis Gelb, nehmen im Ziegelbraun neuen Anlauf und münden im roten Lack des darunter parkenden Kleinwagens. Darüber spannt sich der Himmel als Farbband. Egglestons Bilder sehen, wie Szarkowski formuliert, „gleichzeitig den Himmel und das Blau als ein Ding“.
Es geht weiter, Dallas, Pittsburgh, Miami, Boston, das Weideland von Kentucky. Wenn Menschen auftauchen, dann in ihrer Versunkenheit, inmitten der Bewegung, eher gebeugt vom Leben, skeptisch. Am östlichen Umkehrpunkt der Reise dann eine großartige Überraschung: Berlin. Der Blick hält sich auch hier von allen Ikonen fern, bleibt bei einer Reihe wartender Taxis, Leitern in der Ecke, Farben, Strukturen, Linien. The Democratic Forest ist der Blick eines Solitärs, der unverwandt und ironiefrei auf die Stillleben des Alltags schaut.
Wenn man die epische Natur der Bilder wie Mark Holborn im einleitenden Essay genauer untersucht, kann man darin fast eine fiktionale Arbeit sehen. „Sie porträtiert ein Land im Übergang, wo das Alte und das Neue kollidieren. Es riecht nach Vergehen bei allen Anstrengungen. Im Rückblick sehen wir eine Welt, die an ihr Ende gelangt, weniger als einen mutigen Neuanfang.“ Ob diese Lesart mit der Intention übereinstimmt, ist nebensächlich, William Eggleston hat sich nie auf ein politisches Erzählen fixieren wollen. Es gibt keinen Zeigestolz und keine Wertung, alles wirkt vertraut und vertraulich. Vielleicht weil er trotz der Reisen daheim geblieben ist, in seiner Art, zu schauen.
Info
The Democratic Forest William Eggleston, Mark Holborn (Hg.) Steidl 2015, 10 Bde., 1.328 S., 550 €
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