Der weite Blick von oben auf die Welt, erklärte vor einer Weile Sokrates dem wissbegierigen Simmias von Theben, eröffne ein Spiel aus bunten Farben. Purpurrot, wunderbar schön, goldfarbig, auch weiß, „viel weißer als Alabaster oder Schnee“. Die Welt erscheine als ununterbrochenes Bunt, sie zu betrachten, sei „ein beseligendes Schauspiel“.
Auch Tausende Jahre später hat der Blick von oben einen versöhnlichen Geschmack, vom Gestank der Welt befreit, ohne Lärm und Gewusel. Wer je den Mont Ventoux bestieg und das Glück hatte, zwischen Wanderern und Familienausflüglern eine halbwegs unverschmutzte Viertelstunde zu finden, kann an Petrarca denken, den der Blick von hier betäubte. Fürs Wohnzimmer bannen Luftbildpathetiker wie Yann Arthus-Bertrand Glanz und Farben in Kitschmuster.
Und es gibt Edward Burtynsky, der darauf schaut, wie sehr sich das Schauspiel verändert hat. Weil er sich auf hergestellte Landschaft konzentriert.
In Anthropocene schlägt er einen weiten Weg von den Haliburton Highlands in Ontario zu baskischen Stränden von Zumaia ein. In Kanada ging er als Junge fischen und will die geologische Zeit verstanden haben. Deshalb fotografiert er am Golf von Biskaya Gesteinsschichten, die zum Meer ziehen, sich wie Fasern einer Vergangenheit strecken. Burtynsky eilt weiter: Dongying in China, hier stapeln sich Tetrapods, tonnenschwere Betonbausteine, die die Küste gegen den Klimawandel schützen sollen und als Technofossile neue geologische Schichten bilden. Sie lagern auch an nigerianischen Stränden. Zum neuen Stratum gehören auch gepresste Dosen in der chinesischen Fujian-Provinz, Plastikberge der Dandora-Müllkippe bei Nairobi. Burtynsky überschaut ausgreifende Siedlungen, notiert Abfall, Verunreinigung, Zerstörung. Überall wird gegraben, gesprengt, auch das ein ununterbrochenes Bunt: absurde Muster, brutale Einkerbungen, giftige Spuren.
Burtynsky, Sohn eines früh verstorbenen Autoarbeiters, bereist seit Jahrzehnten die Welt, schaut mit großer Sorge auf sie herab und bezahlt einen Ausgleich für seinen „carbon footprint“. Seine Kamera segelt über dem grausigen Schauspiel der Ölförderung im Nigerdelta, den Marmorsteinbrüchen von Carrara, schauerlichen Dellen, die Fracking in Wyoming produziert. Sie schwebt über Salzpfannen im indischen Gujarat, die wie riesige und psychedelisch verschobene Teststreifen im graubraunen Sandboden liegen. Auf der nächsten Seite hat die Kamera noch einmal an Höhe gewonnen, jetzt streckt sich unter uns ein graues Plateau, durch das sich Farbskalen ziehen, drum herum zimtfarbene Hänge. Wie aufgerissen, schwer verwundet scheint die Erde.
30 Billionen Tonnen Zeug
Burtynsky arbeitet seit jeher im großen Format und mit Distanz, kümmert sich um Gelände, in das der Mensch eingriff, und publiziert nun gemeinsam mit Verbündeten zu seinem Überthema eine Kombination aus Bildband, Dokumentarfilm, Ausstellung. Wer das letzte Jahrzehnt unter einem Stein oder auf Instagram verbrachte, kann hier noch einmal lernen, was das Anthropozän ist: der Umstand, dass der Mensch und menschengemachte Strukturen spätestens seit den 1950er Jahren hauptverantwortlich für durchgreifende Naturveränderungen sind. Geologisch nachweisbar, klimatisch erfahrbar.
Der Band vermisst in atemlosem Takt diese neue Natur: Verletzungen und Verheerungen sind es, Betonfurunkel und Industrielandwirtschaft, Kalisalzgruben oder Kupferminen. Burtynsky reist sogar nach Nordrhein-Westfalen, überschaut Mondlandschaften. Dazu Faktenberge, die das Wissen, dass Dinge im Argen liegen, in eine endlose Horizontale verlängern. Beispiele: Der Mensch hat mittlerweile etwa 30 Billionen Tonnen Zeug hergestellt, mit dem er den Boden bedeckt. Straßenbeläge, Müll, Aushub. Also etwa 50 Kilogramm pro Quadratmeter, davon ist ein Kilogramm Beton. Entwaldung, Industrielandwirtschaft, das Freilegen von Mineralien, der Bau von geschätzt 58.500 Staudämmen haben Landschaften produziert, verworfen, der Verödung preisgegeben. Etwa drei Milliarden Tonnen Sediment sind dabei angefallen. Oder: Seit dem halboffiziellen Startschuss des Anthropozäns haben wir in etwa so viel oder sogar mehr Energie verbraucht als in dem Zeitraum, der etwa 9.500 Jahre vor Sokrates’ Erklärungen begann.
Damit man das auch wirklich versteht und auch den Wortschöpfer des Anthropozäns nicht vergisst, kreisen Essays im Drei-Kilogramm-Band um Paul Crutzen, walzen Daten aus, rücken einen gehörigen Teil der endlosen Horizontale in den Blick. Dazwischen Gedichte von Margaret Atwood, die man, wenn man Margaret Atwood mag, gar nicht nicht mögen kann. „Eine wichtige Arbeit“, sagt die nette Pressesprecherin des Steidl-Verlags.
Nur setzt bald, wenn man blättert, liest und nachdenkt, Erschöpfung ein. Nicht, weil man einer ätzenden Qual ausgesetzt wäre, einer wohltuenden Konfrontation. Man wird schlicht nicht herausgefordert. Allenfalls erschlagen. Die Pädagogik des Bildbandes erzeugt Abgegessenheit. Routine ergibt sich, wir sehen immer neu, dass vieles in der Welt im Eimer ist, mehr noch müssen es die Menschen sein, die in den ganz kaputten Ecken ihr Leben fristen. Auf eine andere Art wiederum dann jene, die FDP wählen, oder SPD, oder CDU; in den USA Demokraten oder Republikaner. Die einen schicken Polizisten in den Hambacher Forst, andere sorgen sich um Aktiengewinn, weitere zerreiben Umweltschutzvorschriften. Nach letzten Erkenntnissen radeln die Grünen auch nicht zum Stuttgarter Landtag, um Mauern einzureißen. Man liest, blättert, denkt an Nachbarn, die nach Mallorca in den Urlaub fliegen, sonst aber als Yoga-Lehrer für Balance und innere Einkehr werben. An solche, die keine Wahl haben. An die, deren Gewinnspanne im Gujarat gesteigert wird.
Bio, hilf
Kunst und Politik sind getrennte Felder, die sich am einfachsten mit Brücken schlechten Gewissens, oder Didaktik, verknüpfen lassen. Um die Verbindung herzustellen, müssen künstlerische Ausdrucksmittel eindeutig sein. Damit aber verblasst die intellektuelle Herausforderung, Erzeugnisse werden pädagogisch oder Teil einer Empörungsökonomie. So-streift-man-Kondome-über-Erläuterungen mögen in Theateraufführungen von Nichtregierungsorganisationen ihre Berechtigung haben, genauso wie Bilder katastrophaler Zustände von dem, was wir als Natur beschreiben.
Neben Ohnmacht ist vielleicht das größte Problem, dass man selbst aus dem Zerstörungswerk einer warenproduzierenden Welt, die Burtynsky genau, weltumspannend und technisch gewandt dokumentiert, den Geschmack absurder Schönheit nicht verbannen kann. Weil wir mit Distanz draufschauen. Ein betäubendes Farbenspiel glitzert da, bizarre Formen, unterspült vom tauben Gefühl, nicht viel ausrichten zu können. Außer vielleicht Biobananen zu kaufen. Die Erkenntnis, dass die Welt allüberall brennt, beantwortet sich leichter mit Flucht in Yoga und Spiritismus. Das stört auch keinen Balearen-Urlaub. Unsere Art zu leben ändern wir nicht. Was einen anfassen, was es dringlich machen würde, wäre womöglich: Nähe.
Info
Anthropocene Edward Burtynsky Steidl 2018, 224 S., 95 €
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