Skifahrt ohne Bumsjodel

Tourismus Winter ohne Schnee ist unerträglich, aber wieder in die Superspreader-Alpen-Orte? Unser Autor rät zu Langlauf in Finnland
Ausgabe 49/2020

Die Hangasojan-Straße liegt nicht im Nirgendwo, da hat mein Bekannter übertrieben. Sie liegt genau hier, rund 230 Kilometer nördlich des Polarkreises, biegt von der Europastraße ab. Und sie ist ein Problem. „Oh, Saariselkä im April, toll, da trägt der Schnee“, sagten Freunde in Helsinki, meinten, dass bei Sonne und ersten Plusgraden Firn über der Landschaft läge, fanden sofort zehn finnische Worte dafür. Warfen triste Blicke aus dem Fenster in ihre Hauptstadt, draußen sechs Grad Celsius, beharrlicher Regen, Aprilschnee schmolz zu grauen, mannshohen Auswürfen. April-Begriffe in Mitteleuropa: Kontaktbegrenzung, Lockdown.

Sieben Monate später kann man rätseln, wie einem österreichischen Kanzler beizubringen wäre, dass die Kombination Pandemie plus Ballermann-Tourismus in den Alpen ungut ausgeht. Sich wundern, dass Ischgl als Wahrzeichen von Raffgier, Umweltvernichtung und grundsätzlicher Besoffenheit einfach wiederholt werden könnte. Über den Umstand, dass sehr viele Menschen zu Bums-Techno und Jagertee schunkeln werden, wenn man sie lässt. Über den Gedanken von Kant mit der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Allerdings auch klar: Ein Winter ohne Schnee ist unerträglich.

„Mittwinter-Saison“, sagt der Mann am Flughafen Ivalo, und ob ich die Spezialversicherung für den Leihwagen bräuchte? Allein heute habe er drei Kunden aus Gräben gezogen, blickt nicht vom Rechner auf, zeigt mit dem Daumen über die Schulter durchs Fenster: fünf Grad unter Null, Schnee fällt wie Schleier, über zehn Zentimeter pro Stunde. Ein paar Kilometer weiter ist dann das Problem genau genommen keines der Hangasojan-Straße, sondern des Wagens: Schicke Plastikschürze, jetzt eher hinderlich, Schnee türmt sich vor der Motorhaube, weiter als zwanzig Zentimeter geht es heute nicht. Kleiner Trost, Spezialversicherung hätte auch nicht geholfen.

Das Nötigste in einen Rucksack, losgehen, Hütte suchen. Eine halbe Stunde in den Wald, Schnee greift übers Knie. Mökki bedeutet auf Finnisch so viel wie Häuschen, ist aber viel mehr: Rückzugsraum, Stille, Sauna, das Innere der Familie, im besten Fall Blick auf Wald und See, möglichst nicht auf Nachbarn. Ein Ort wie eine Katharsis, kleiner Anker jenseits der Zivilisation, Erinnerung daran, dass ein paar Generationen zurück die meisten Finnen im Wald lebten. Eine finnische Freundin in Berlin sagt mir jeden Frühling, wenn man im Café draußen sitzen kann, dass sie jetzt aber ernsthaft daran denke wegzuziehen: „Zu viele Leute hier“. Sie hat kein Mökki.

Der Begriff spannt sich vom voll ausgestatteten Haus für alle Jahreszeiten bis zur Hütte um einen Ofen. Das Mökki in der Hangasojan-Straße ist aus ganzen Baumstämmen gezimmert, Ofen, Kochnische, draußen Plumpsklo und Sauna. Fließendes Wasser gibt es auch, etwa hundert Meter durch Schnee: Ein Bach. Es schneit weiter, als wollte der Tag damit Preise gewinnen, drinnen ist es warm: Die zwei Heizkörper hat mein Bekannter mit der Fernsteuerung angestellt, vier Fenster blicken auf Wald.

Saariselkä ist eine Langlaufgegend, vielleicht die schönste in Finnland – damit hat mein Bekannter nicht übertrieben: Jetzt, Mitte April, geht die Sonne vor sieben Uhr auf, Abends ist es bis zehn Uhr hell, man hat Zeit für rund 200 Kilometer Loipe, ein Drittel streckt sich in den Urho-Kekkonen- Nationalpark. Kekkonen war eine der Vaterfiguren Finnlands, Langzeitpräsident, verschwand, wenn es Probleme gab, er nachdenken musste, tatsächlich längere Zeit in Wäldern der Gegend. Angeblich kam er mit Lösungen wieder heraus.

Ich habe in meinem Leben durchschnittlich viele Medaillen bekommen, für Werfen, Stoßen, Schlagen unterschiedlicher Bälle, außerdem noch welche fürs Laufen. Eine der schönsten, weil die erste, habe ich bei einem Langlaufwettbewerb gewonnen. Ich mache durchschnittlich häufig Sport, wandere ab und an, denke, dass ich gewappnet bin für den Wald – nicht, um Probleme zu lösen, sondern auf Skiern, Bilder im Kopf von elegant dahinfliegenden Langläufern, gleichmäßige Bewegung, Stille.

Am nächsten Tag ist der Himmel blankgefegt, Schnee knirscht wie Metall, wenn man die Stöcke hineinrammt. Ich habe Skatingski ausgeliehen. Sicher ist die gemütlich dahinrutschende, klassische Variante interessant. Aber es geht auch sportlicher. Kekkonen hat seine Probleme im Wald gelassen, im Wald kommen sie zu mir: Ich bin Abfahrtsski gewohnt, jetzt habe ich keine Kanten. Die Balance funktioniert leidlich, aber beim Schrittwechsel rutsche ich heillos. An Steigungen: zurück. Vor allem muss ich gegen meine alpine Gewohnheit kämpfen: Arme und Beine verstehen nicht, dass sie nicht ständig beschleunigen, rasanter werden müssen. Durchschnittlich fit? Schweiß drängt aus jeder Pore, rennt aus den Ärmeln trotz acht Grad unter Null. Nach einer Dreiviertelstunde bin ich völlig erledigt. Also aus dem Wald hinaus und ans Mittagsbuffet des kleinen Skizentrums Kiilopää, einem Geburtsort des finnischen Skitourismus. Klassische Speisekarte: Salat, Lachssuppe, nirgends jodelt Bums-Techno. Ich bekomme vor Erschöpfung kaum die Hand zum Mund.

Gegen Probleme im Wald muss ich: mehr Zeit im Wald verbringen. Langsame Schritte, Geduld, Rhythmus vorgeben, Arme hindern, zu hart anzuschieben, das Gewicht lange, immer mitten auf dem Ski lassen, ihn ins Gleiten bringen. Auch: aufrechter stehen, Ski weniger steil anstellen. Langlauf streckt sich, will einen gleichmäßigen Rhythmus finden. Ich schwanke wie ein Uhrpendel, aber niemand sieht’s, Covid-Ansteckungsgefahr: null.

Wie es sich für den Norden gehört, gehen Tage schweigend dahin, ab und an knarzt Holz im Wind, Stockspitzen knirschen im Schnee, Ski klappern. In Saariselkä gibt es einen Supermarkt mit Dosentomaten aus Italien, Käse aus Frankreich, Sprotten aus Lettland. Menschen in Skianzügen stehen vor Regalen, unter ihren Schuhen rappeln Langlaufbindungen auf Linoleum, nach dem ersten Besuch mache ich mich für den Einkauf auch nicht mehr stadtfein.

In den Wäldern fahre ich über viele Stunden allein, dann nickt einmal wieder einer von der Spur, die entgegenkommt. Als ich nach ein paar Tagen die Ski vor dem Kiilopää-Zentrum abstelle, mich gegen Muskelkater in die Rauchsauna retten will, kommt einer, hager, großgewachsen, fragt grußlos: „Wie viele Kilometer heute?“ Ich nuschele eine Zahl, die stimmen müsste. Er nickt, Hyvää. Gut. Geht davon. Hygieneregeln sind etwa das Zweite, was Finnen in ihrem Leben lernen, knapp hinter Mundhalten.

Nach drei Tagen, lockerer Neuschnee macht die Pisten angenehm stumpf, wird mein Takt ruhiger, gleichmäßiger, ich nähere mich dem Bild, mit dem ich in den Wald fuhr. Jetzt kann ich den Kopf heben, in die Landschaft schauen, Abendsonne greift in Bündeln durch Bäume, Bachläufe, Moore liegen unter meterdickem Puder, wenn sich die bohrend helle Sonne zum Horizont wendet, ihn rosa einfärbt, wechselt der Himmel in tiefes Blau. Sogar der Schnee nimmt blaue Farbe auf, es wird kalt, ein Björn-Daehli-Gefühl breitet sich aus, Eispanzer wachsen über Mütze und Gesicht. Nichts könnte ferner als Ischgl liegen, nichts näher als der Wunsch, nie Ischgl-Volk hier hinzubringen.

Meine Langlaufmedaille bekam ich mit sechs Jahren, in Saariselkä muss sich mein Körper Bewegungen zurückerobern. Selbst nach drei Tagen: Schon kleine Böschungen stören den Takt, ich stehe zu sehr auf den Kanten, das Gleiten ist vorbei. Eindeutige Erkenntnis: Diese Wintersportler im Fernsehen, die Anstiege hinaufspringen, müssen übernatürliche Wesen sein.

Landschaft fließt dahin

Aber meine Geschwindigkeit wird gleichmäßiger, der Schlittschuhschritt wird runder. Landschaft fließt unter klarem Licht dahin, ich konzentriere mich darauf, mein Gewicht gerade umzuschichten. Flüchtiger Gedanke: Wenn Ischgl geschlossen, Lifte abgebaut würden, könnte man in den Alpen wieder Skifahren. Man müsste halt die Berge hinauflaufen.

Und dann steigt die Loipe den sicherlich nicht alpinen Kiilopää-Berg hinauf, baumloser Fjäll-Rücken, gleißend weiße Wüste, drei Kilometer geradeaus. Erinnerung, Medaillen, Rhythmus: fortgeweht, meine Schritte ähneln einer angeschossenen Ente, während ich aufsteige, könnten Schlachten geschlagen werden, Homer hätte die Schiffe aller Bundesgenossen gezählt, nichts gleitet. Zwei, die ich weit unten an einem Bachlauf mit Weltcupsieger-Schritten überholte, schließen auf, nehmen den Berg mit demselben Gleichmut, mit dem sie die Ebene durchmaßen. Weit vorgebeugt ziehen sie vorbei, knapper Seitenblick einer, die wohl längst die Rente genießt: Schmunzelt sie?

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