Ukraine-Krieg: Die Verblendung der deutschen Linken
Meinung Die deutsche Linke ist in ihrer Einstellung zum Ukraine-Krieg festgefahren: Verantwortlich sind die USA und Verhandlungen könnten mit einem Fingerschnippen die Waffen schweigen lassen. Unser Autor rechnet mit dieser Haltung ab
So sehen die konkreten Folgen des russischen Angriffs in der Ukraine aus: Schlüsse daraus können offenbar sehr verschiedene gezogen werden
Foto: Dimitar Dilkoff/AFP/Getty Images
Vor einem Jahr hat Russland die Ukraine überfallen. Nach der Annexion der Krim will Wladimir Putin das Land vernichten. „Russland, eine alternde Tyrannei, versucht die Ukraine zu zerstören, eine trotzige Demokratie“, beginnt Timothy Snyder, Historiker für Zentral- und Osteuropa, einen Essay in der Foreign Affairs. Sein Untertitel formuliert eine Frontalstellung, die wir uns merken müssen, „Krieg zwischen Demokratie und Nihilismus“.
Nihilismus also, eine Geisteshaltung, die das Sein und das Absolute negiert, zum Relativismus neigt. Darin liegt weniger Pathos, als man meinen könnte, Snyder sieht im Nihilismus ein psychologisches Faktotum von Putins oligarchischem Regime: Es funktioniere nicht, indem es eine Gesellschaft mit Hilfe „einer g
Faktotum von Putins oligarchischem Regime: Es funktioniere nicht, indem es eine Gesellschaft mit Hilfe „einer großen Vision“ mobilisiere, wie der Nationalsozialismus die Deutschen und der Faschismus die Italiener*innen, sondern, „indem es Individuen demobilisiert, ihnen versichert, dass es keine Sicherheiten gebe und keine Institutionen, in die man vertrauen könne.“Die politische Debatte in Deutschland feierte über lange Jahrzehnte eine Party wirtschaftlicher Beziehungen zum Rohstofflieferanten Russland. Eine politische Analyse, die in den Blick rückte, wer da eigentlich billige Energie lieferte, wie es im Land aussah, was für geopolitische Strategien da wuchsen, war da unschicklich, wurde lieber vom Fest verwiesen – zu anstrengend, zu randständig. Oder sie konnte grade nicht in diese Richtung denken, weil ja Imperialismus für die USA reserviert war. Für die allermeisten lag 2014 das Kriegsgeschehen im blauen Dunst der Ferne, mit dem Einmarsch im vergangenen Jahr wurden in Deutschland dann Strom und Lebensmittel teurer, Wohnungen knapper. Aber was in der Ukraine existenziell ist, bedroht hier die Gemütlichkeit des Mittelstandes. Heftiger spüren alleine Menschen am unteren Rand der Gesellschaft die Konsequenzen.Im eigenen Weltbild verharrenSo eine regionale, oder auch soziale Distanz erlaubt eine Verinnenpolitisierung des Konflikts. Dabei regiert eine Selbstzweck-Methode: Behauptungen über unlautere Motive politischer Gegner werden so lange wiederholt, bis sie, scheinbar wasserdicht, ins Feld geschickt werden können. Der Fluchtreflex gegen all den Lärm, allerlei „Manifeste“ und händeringende Überlegungen, sieht so aus: Sich beim Thema Ukrainekrieg in fast esoterischen Glauben an „Verhandlungen“ zurückzuziehen, währenddessen einfach, schnipp, „die Waffen schweigen“.Beide Haltungen interessieren sich nicht für die materielle Basis des Krieges, oder seine politische Dimension. Besonders verstörend ist das, und hier soll kurz unsere Aufmerksamkeit liegen, für politische Kreise, die sich für links halten und das Adjektiv kritisch beanspruchen. Wieso, fragt die ukrainische Autorin Anastasia Tikhomirova in der Taz, interessieren sich deutsche Linke nur marginal für Russlands Krieg in der Ukraine? Warum schweigen die vielen antifaschistischen Gruppen? Vielleicht, weil sie aus Prinzip argumentieren und seltener auf Prozesse schauen wollen. Die zeigen zum Beispiel, wie leichte Mehrfachraketenwerfer in der Ukraine Menschenleben retten, indem sie die konventionelle russische Artillerie mit ihrer knappen Reichweite von Städten und Siedlungen weghält. Oder, dass Waffenlieferungen an die Ukraine erst die Möglichkeit politischer Verhandlungen mit einem Aggressor bieten, dessen im KGB ausgebildete Weltsicht aus einer binären Logik von Macht besteht.Nach dem Einmarsch in die Krim hielt sich bei vielen Linken lange das Bild des umzingelten Russlands, von „russischen Sicherheitsinteressen“, von einer aggressiv vorrückenden NATO. Viele Linke halten bis heute die Osterweiterung des Militärbündnisses für einen kriegsauslösenden Fehler. Den NATO-Russland-Rat (1991-2014), die NATO-Russland-Grundakte (1997), die ständige russische Vertretung im NATO-Hauptquartier, monatliche militärische Konsultationen, die gemeinsame Erklärung mit Blick auf Russlands Sicherheitsinteressen, 2004 unterzeichnet von Wladimir Putin und den Staatschefs der NATO-Länder passen ihnen nicht ins Bild.Sie wiederholen, dass Russland in die Enge getrieben wurde, noch als Gazprom auf Geheiß des Kreml Gaslieferungen reduziert und phasenweise eingestellt hatte, Speicher in Deutschland fast leer ließ. Die russische Armee mit zehntausenden Soldaten an der ukrainischen Grenze aufmarschierte. Der Gesang klassischer Imperialismus-Thesen schien vielen angenehmer, als der Blick auf das imperiale Gebaren, das in Europas Osten Geschütze belud.Die Selbstgefälligkeit der LinkenOffensichtlich überwiegt bei vielen Linken eine fast identitär gehegte Hoffnung auf eine einfache Welt, der man mit Marx-Grundkurs und etwas Pazifismus beikommt. Es sind rhetorische Trockenübungen, die auf ihre Weise vom Nihilismus naschen. Mit dieser Selbstgefälligkeit taumelten sie in den Überfall. Beispiele: Am 22. Februar 2022 twittert Fabio de Masi, einer der Klügeren, Unabhängigeren unter den Linken: „Ich wollte nur kurz feststellen, dass Donnerstag ist. Weil die CIA meinte, dass sie ganz sicher sei, dass der Russe Mittwoch in der Ukraine einmarschiert. Vielleicht doch besser auf Diplomatie konzentrieren!“ De Masis Gewürzmischung taucht häufiger auf: Informationen aus den USA stimmen nicht und es gibt Leute, die anderes im Sinn haben als Diplomatie (was die CIA damit zu tun haben soll, lassen wir mal beiseite).Lauter, penetranter posaunte Sahra Wagenknecht all das in derselben Woche in die Welt. In einer Fernsehtalkshow hielt sie Putin auf keinen Fall für „einen durchgeknallten Nationalisten“, Russland habe eben „faktisch kein Interesse, Grenzen zu verschieben“. Der Einmarsch in die Ukraine werde „herbeigeredet“. Ein Jahr später veröffentlicht Wagenknecht mit Alice Schwarzer ein „Manifest“, sie rügen die Ukraine für ihren Widerstand, erklären ihr: „Verhandeln heißt, Kompromisse machen, auf beiden Seiten.“ Etliche intellektuelle Regalfächer darüber dachte Jürgen Habermas wenigstens darüber nach, was die Mitverantwortung des Westens durch Waffenlieferungen bedeutet. Linke Sozialdemokraten schweigen, betreten. Wagenknecht und Schwarzer geht es um sich: „Es ist Zeit, uns zuzuhören!“Währenddessen lässt uns der zum fernen Rauschen herabgesunkene Kriegsalltag vieles schnell vergessen. Die Idee, Waffenlieferungen zu stoppen, funktioniert nur, wenn sie sich nicht mehr an das Massaker von Butscha erinnert, die Massengräber von Zivilisten in Irpin, die aus der Ukraine verschleppten Kinder. Sie nicht als Hinweise dafür zählen will, dass Kompromisse mit Russland weder Schonung, noch Überleben garantiert. In solchen Einwänden wittern Linke lieber „Militarismus“, oder, gerne mit Blick auf die Grünen, „Kriegstreiberei“. In der reflexhaften Abgrenzung gegen grüne Pragmatik erhoffen sie sich politische Geländegewinne – der Vorwurf soll aber auch kräftigen Paternalismus verschleiern: Männer, die sich beim Wein über den Stil (Außenpolitik und Kleidung) von Annalena Baerbock mokieren – das ist fast schon linker Breitensport.Seymor Hershs Analyse ist unplausibelRelativismus leitet oft auch den Blick auf die Klimakatastrophe: Machen könne man wenig, trauen sollte man niemandem, Politik hätten ohnehin nur das Ziel, Arme ärmer, Reiche reicher zu machen. Um so besser, wenn sich dann die Medienente verfängt, dass eigentlich Grüne Lützerath abbaggern wollten. Denn: Unterhalb der Abschaffung des Kapitalismus brauchen wir nicht zu beginnen. In der konkreten Gegenwart bedeutet so ein Fatalismus aber Raum für Potentaten wie Wladimir Putin: Russland ist eine Industriegesellschaft, die fast keine Schritte in eine Welt jenseits von fossiler Energie macht. Der Angriff auf die Ukraine, sinniert Snyder, „kann als Vorschau darauf dienen, wie unkontrollierter Klimawandel aussehen wird: Launenhafte Kriege, geführt von verlogenen Kohlenwasserstoff-Oligarchen.“Seit einem Jahr fragt das Sozial- und Marktforschungsinstitut INSA regelmäßig, welchen Ausgang des Krieges zwischen Russland und der Ukraine wir uns wünschen. Antwortkategorien zählen auf, „Militärischer Sieg Russlands“, Sieg der Ukraine „mithilfe der Nato-Truppen“, oder ohne. Es wird nach Alterskohorten abgefragt. Die mit Abstand höchsten Balken wachsen über der Antwort „diplomatische Beilegung des Krieges“.Bundestagsabgeordnete der Linken versehen solche Erkenntnisse mit der Interpretation, dass „Kriegstrommeln“ gerührt würden, gegen den Mehrheitswillen. Seymor Hershs extrem unplausible Recherche, die US-Präsident Joe Biden für die Sprengung von Nord Stream 2 verantwortlich machen will, hilft auch. Hersh geht von falschen Annahmen aus? Stellt den Verlauf der Dinge falsch dar? Nicht wichtig, Aufatmen, das Bild von den USA stimmt wieder. Gregor Gysi gräbt die Mär aus, dass es kurz nach Kriegsbeginn die Möglichkeit zu einem Waffenstillstand gegeben hätte – unterzeichnet von Putin und Selenskyj. Joe Biden und Boris Johnson hätten nicht zugestimmt. Alles etliche Male widerlegt, auch Israels damaliger Ministerpräsident Naftali Bennett, der das ganze verhandelt haben soll, relativiert. Nach dem Massaker von Butscha sowieso unmöglich. Aber irgendwer könnte solche Dinge ja glauben. Im Gekreisch des Aufmerksamkeitswettbewerbs klingen viele wie die AfD.Russland bombardiert dagegen weiter ein Land und eine ideelle Weltordnung. Ein Sieg der Ukraine, schreibt Timothy Snyder, würde das Prinzip der Selbstverwaltung bestätigen, Menschen ermächtigen, ihnen erlauben, „sich neu belebt den globalen Aufgaben zuzuwenden“. Dafür müssen wir uns auch hier, weitab der Schlachtfelder, gegen den Relativismus stemmen, gegen die Verlockungen ins warme Badewasser nihilistischer Löcher zu steigen. Der Widerstand besteht, im Kern, aus demokratischen Ideen, die eine Souveränität erkämpfen will. Und dafür ein Risiko eingeht.