Wie beobachten und über sie schreiben, wenn sie selbst viel Zeit damit verbringt, Menschen zu beobachten und über sie zu schreiben? Blond gefärbte Haare, die Spitzen drängen ein wenig nach außen, so dicht, dass man meint, sie müsse öfter mal ihr Gesicht darunter freischneiden; braune Augen, die schon bei der Einleitung der Moderatorin ein klein wenig irritiert sind, weil sie längst ahnen, dass der gewundenen Bogen zur Schweiz führen und sagen will, dass hier gleich jemand mit anderer Sprachfärbung auf der Bühne vorlesen wird. Die Irritation verschwindet schnell, die Beobachterin legt ihre Hand mit den roten Fingernägeln vor den weit geöffneten Mund, lacht. Ein Pullover, dessen Blau von einem dunklen, steinigen Farbton unterspült wird, eine goldene Brosche links. Im orangenen Licht der Bühne leuchten die Socken aus den hellbraunen Stiefeletten noch leuchtender orange. Harbour Front Literaturfestival, Hamburg, Orange scheint dieses Jahr Leitfarbe zu sein.
Im Nochtspeicher war vor langer Zeit eine Destille eingerichtet, viel später ein Erotikmuseum: Von der Destille blieb die Holzdecke, von groben Holzstützen an Ort und Stelle gehalten, vermutlich vom Erotikmuseum sind die seltsamen Lederschnallen an den unverputzten Ziegelwänden. Noch während der Vorrede fällt ein Mann in tiefen Schlaf, drei junge Frauen lauschen längeren Ausführungen ihres Kommilitonen über Abschlusspüfungen.
Dann liest Julia Weber, geboren 1983, aus ihrem ersten Roman. Immer ist alles schön hat gleich eine eigne Sprache, später wird sie der Moderatorin antworten, dass sie sogar ganz zuerst diesen Ton hatte, von ihm ausgegangen ist. Dass also alles andere, die Handlung, die Verhältnisse, dazukamen. Vielleicht aber, wenn man ein wenig darüber nachdenkt, ist das nicht ganz richtig, vielleicht wird es eher ein Kreiseln gewesen sein, denn die Sprache von Julia Weber und die Geschichte, die sie damit erzählt, bilden selbst einen Kontrast zur Art, wie die Welt eingerichtet ist. Und die Welt beobachtet Julia Weber sehr genau.
Rolltreppe der Erwartungen
Jetzt muss man erwähnen, dass sie in Zürich lebt, eine Stadt, die wohlgeordnet und eingerichtet ist. Außerdem achtet man in Zürich auch darauf, dass bei allen anderen, die da leben, die Welt nicht nur wohlgeordnet und eingerichtet sei, sondern eben möglichst auch genau so, wie bei ihnen selbst. Für Julia Weber war das insofern förderlich, erzählt sie anderntags, als sie in Zürich und der Geordnetheit der Schweizer Welt ihre Literatur, ihren Ton und ihre Sprache gefunden habe, immer wieder findet und entwickelt. „In Berlin wäre das zum Beispiel viel schwieriger, denn da ist sowieso alles Kunst. Nicht so in Zürich.“
In Zürich und der Schweiz sei alles so, sagt sie und sie macht Handbewegungen, die vielleicht eine Art Karate sind, vielleicht ein Regal nachzeichnen, vielleicht die schwarzen Striche in einem Piet-Mondrian-Bild. Dieser Unterschied, also zwischen der Mondrian-Karate-Welt und der weiten, unkontrollierbaren Fantasie, ist es, der durch ihre Sprache glitzert.
Schon im Titel Immer ist alles schön stecken Hoffnung und Anspruch, schmeckt auch Anstrengung heraus: Immer muss, immer soll alles schön sein. Jedenfalls geht es in gewisser Weise in diesem Roman um Erwartungen einer Welt an eine Frau, die Maria heißt, Tochter war, Mutter wurde, Freundin von einem Mann, Geliebte und Nachbarin. Man könnte sagen, es sind die Erwartungen einer bürgerlichen Gesellschaft und aus jedem Schritt ergeben sich immer auch andere Erwartungen und mit all dem, kann man meinen, kann die Tochter-Mutter-Frau-Geliebte-Nachbarin nicht recht umgehen. Oder wenn, dann geht sie damit um, indem sie sich schlecht fühlt – wogegen sie rauchen will, Wein trinken will, tanzen will.
Den Lauf der Dinge erfahren wir allermeistens von ihrer Tochter Anais, eine reife und wunderbare unzuverlässige Erzählerin. In ihrem kindlichen Blick rücken kleine Dinge in den Vordergrund, sie ist aber auch wach für das Große und Ganze. Anais kann in Sprache umsetzen, wofür Maria vielleicht tanzen und trinken muss, sie versteht ihre Mutter, versucht erst dem Leser, aber auch dem kleinen Bruder Bruno die Dinge zu erklären. Ihm malt sie die Welt zunehmend stärker schön. In den kurzen Momenten, in denen die Erzählperspektive auf Maria übergeht, sehen wir den Unterschied: Die Mutter rechtfertigt sich vor ihrer Tochter, Anais wendet sich direkt an uns.
Die Dinge sind kompliziert, das wird von der ersten Zeile an klar: Maria willigt in einen Urlaub auf einem Campingplatz hinter der letzten Tramstation ein, es ist Geburtstag und von da an wird es Ernst in dieser Familie – es gibt so viele Rollen, die man in diesem Leben vergeben und ausfüllen muss, alle schwierig. Aber zunächst sitzen Anais, die sich „Feuer und Ferne“ gewünscht hatte, der jüngere, stillere, ernstere Bruno, der „einen Urlaub ohne Alkohol“ wollte und die Mutter am Feuer.
„Mutter hält einen Zahnputzbecher mit Wein gefüllt in die Höhe.
Auf uns, sagt sie.
Davor sagte sie, entweder Urlaub oder kein Alkohol, aber beides gehe nicht, denn sie könne uns nichts gönnen, wenn sie nicht sich selber was gönnen könne, und das Einzige, was sie sich wünsche, sei am Abend ein Becher voll Wein.
Mit dem Becher wird Mutter weich wie das Licht des Feuers.“
Später wird die Mutter dann noch mit einem Koloss tanzen gehen, wie sie eben immer geht, wenn der Wein sie weich und empfänglich gemacht hat für die Welt, und sie die Erwartungen und ihre bösen Brüder – die Vorwürfe – auf die lange Bank schieben kann. Vielleicht nämlich, wenn sie tanzen und wirbeln kann, ist sie selbst noch so jung wie Anais, hat die Dinge noch vor sich und deshalb schickt sie ihre Kinder weg, die sie vom Tanz wegziehen, für sich haben wollen: „Jetzt nervt mich nicht, wirklich, ich will das jetzt, das ist lustig hier, mit euch am Feuer ist es langweilig.“
Das zweite Mal kann man am Abend in Hamburg bei Julia Weber eine Irritation feststellen, als die Moderatorin sagt, dass der Roman zwar die Geschichte eines Verfalls, aber auch ein Märchen sei. Vielleicht ist sie zu überrascht, oder zu freundlich, um zu widersprechen. Aber widersprechen muss man, denn wer Verfall misst, geht mit der Elle der bürgerlichen Gesellschaft vor; wer das Märchen will, erkennt den Sinn der Literatur in dem Roman nicht.
Das kleine Tor zum Ausweg
Denn was als Märchen missverstanden wird, ist eigentlich ein radikales Bekenntnis zur Literatur. Sie ist hier nicht nur ein nüchterner Vollzug des Erzählens, im Roman selbst muss Anais eine bunte Welt bauen, als Schutzschicht für Bruno und ein wenig auch für sich selbst; gegen die Forderungen von draußen, von einer Lehrerin, oder vom Jugendamt. Wir ahnen es noch nicht, aber sehr früh im Roman hat Anais schon das kleine Tor zum Ausweg aufgestoßen: „Ich denke, könnten wir neben dieser aufgeweichten Welt nochmals eine komplette Welt haben, eine wenig komplizierte, eine mehr mit Tieren als mit Menschen, dann wäre es gut.“ Anais versteht ihre Mutter, vielleicht besser als die sich selbst versteht. Sie versteht die komplizierte Welt drumherum, und greift zur Literatur.
„Der Kern der Erzählung ist ja vielleicht, was Anais sagt, dass sie diese Wohnung brauchen, diese Art zu leben – ‚sonst werden wir zu Maschinen‘“, sagt Julia Weber am nächsten Morgen in einem Café. Noch genauer ist es die literarische Welt, an der Anais baut, um das Maschinenwerden zu verhindern. Kann man denn mit der Literatur Erwartung, Normen, Anforderungen ganz auflösen? Julia Weber nippt am zweiten Cappuccino. „Also, im Roman schaffen sie es ziemlich lange, oder? Und bei mir persönlich trägt es zum Überleben bei.“
Das klingt recht großartig, weist aber auf etwas ganz Persönliches, das unter der Oberfläche der Erzählung zu spüren ist. Julia Weber wurde selbst Mutter, und das habe ihr ein „extremes Funktionieren“ abverlangt. Und die Notwendigkeit eingebläut, „doch noch sieben Ratgeber zu lesen“. Dabei hatte sie eigentlich auf ihre Intuition vertrauen wollen, ganz wie beim Schreiben, wie auch Anais intuitiv der Literatur vertraut. Die fantastische Welt ist also für beide, für Anais und in Maßen auch für Julia Weber, der Weg zu einem glücklichen Leben. Vielleicht, denkt sie beim Frühstück nach, müsse sie den Roman etwas deutlicher verteidigen, gegen das Einordnen in die Schachtel mit der Aufschrift „Märchen“ wehren?
Eine Brücke bildet die Beobachtung: Julia Weber hat ja auch einen Literaturdienst ins Leben gerufen. Da wird sie gebucht, kommt mit einer Schreibmaschine, Zigaretten und womöglich rotlackierten Fingernägeln, sitzt viele Stunden auf einem Geburtstag oder einer Hochzeit, porträtiert die Anwesenden, schaut, was so passiert, tippt und hat am Ende eine Art Erzählung beisammen, wieder in ihrem Ton, der kleine Verschiebungen verzeichnet, Details in den Vordergrund rückt.
Ein Luxus, sagt sie, zu schreiben, „im besten Fall ohne zu reflektieren, ohne zu sehr zu werten“. Natürlich, manchmal müsse man den SVP-Brautvater mit etwas Ekel und ein paar Federstrichen hineinwischen, aber auch an solchen Abenden baut Julia Weber eine Innenwelt der Beobachtung aus und stülpt sie nach außen. „Ich bin nett“, steht auf Webers Website, sie sagt es sogar noch einmal laut, und auch, dass sie ganz ohne Ironie schreibe. Hernach liest sie alles vor, eine Art Performance.
Jetzt kann man überlegen, ob dies eigentlich Auftragskunst ist, die dem Abend gegen Cash ein klein wenig Exzentrik verleihen soll. Aber das ist müßig: Wer weiß denn, womöglich verhindert die Literatur ja, dass aus Hochzeitsgästen an Ort und Stelle Maschinen werden.
Immer ist alles schön ist für den Schweizer Buchpreis nominiert.
Info
Immer ist alles schön Julia Weber Limmat Verlag 2017, 256 S., 24 €
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