Zeit ist doch ein Arschloch. Vielleicht dachte der alte Herr Schramm genau das, an einem späten Nachmittag vor bald zwei Jahren. Er stand mit seiner Frau im Obstgeschäft, wie immer. Nur war sonst nichts wie sonst. Die Obststiegen draußen: fort, auch die Markise. Der Laden leer, Regale, Tische, Tresen, auch Obst und Gemüse: weg. Aber nichts in Herrn Schramms Gesicht deutete darauf hin, dass hier etwas falsch lief – was auch an seiner generell sparsamen Mimik liegen mochte (er zuckte kaum, wenn er mal sagte, „die sind dann aber nicht ökologisch“, und die Äpfel trotzdem in die zerbeulte Waagschale hob). Oder es lag daran, dass ich nicht hören konnte, was vor sich ging. Herr Schramm zeigte auf etwas, ein paar Menschen wuselten im Laden herum, eine Baulampe in der Ecke. Nein, nichts lässt vermuten, dass Schramm gerade über die Zeit nachdachte.
Es gibt ein Foto von Herrn Schramm, da steht er im Kittel vor dem Laden, mitsamt einer überschaubaren Obststiege, einer älteren Kartoffelwaage und gestreifter Markise. Hufelandstr. 3, 1055 Ostberlin. Über sein Gesicht huscht so etwas wie ein angedeutetes Lächeln, vielleicht Zuversicht. Auf dem Bild ist er noch ein junger Herr Schramm, hält die Sackkarre mit rechts, neben ihm eine Angestellte in gepunkteter Kittelschürze. Dann der Vater, schon deutlicher lächelnd, die Hände hängen am Körper herunter, das karierte Hemd ist bis zum Kragen zugeknöpft. Zuletzt die Mutter: Skepsis im Blick, Arme hinter dem Rücken verschränkt.
Das Foto hat Harf Zimmermann gemacht, der damals wie heute im Viertel lebt. Es ist aus seiner grandiosen Serie, die Hufelandstraße, 1055 Berlin heißt und die man jetzt unbedingt im C/O Berlin sehen muss. Einen Bildband, den man sofort besitzen will, gibt es auch. Zwischen meinem Bild (eher ein Eindruck im Vorbeigehen) und Zimmermanns Foto (Ergebnis einer langwierigen Sache mit einer Linhof-Laufbodenkamera aus den 1930ern und einem Aluminiumstativ aus Ungarn) liegen rund 30 Jahre.
Am Tag, als die Schramms in ihrem leeren Laden standen, schloss das letzte der vielen selbstständigen Geschäfte, die Zimmermann porträtierte. Er porträtierte außerdem: Bauarbeiter, Schüler, eine kleine Gang, den Kellner Erich, Autos, Anwohner.
Kein Raum für Verklärung
Die Bilder erkunden die Straße in den Jahren 1986/87, die Arbeitsform hatte etwas Archaisches: Die Protagonisten stehen in Reihen, oder gestaffelt, ganz ähnlich wie in Bruce Davidsons weltberühmter East-100th-Street-Serie zwanzig Jahre vorher; ähnlich wie bei den Vorvätern – Jacob Riis und vielen anderen – der Reise- und Reportagefotografie. Aufgereiht, in unhandliche Kameras blickend, zum Stillstand verdammt, um lange Verschlusszeiten unverwischt zu überleben. Viele scheinen müde, leere Gesichter, viel Skepsis. Heute kann man denken, dass die Aufstellungen die Erstarrung des Kleinbürgersozialismus spiegeln, den grauen Alltag, der allerhöchstens in bunter Privatheit aufgehoben wurde. Die simple und strenge Komposition gibt den Figuren, Beziehungen und Verhältnissen der Vergangenheit Wucht, lässt aber keinen Raum für Nostalgie oder Verklärung.
Zimmermann kam – vielleicht durch seine umständliche Art der Fotografie, vielleicht, weil er selbst Nachbar war – sehr nah an die Menschen heran, die sich vor ihm postierten. Manchmal, erzählt er in einem reizenden Interview im Bildband, nahm er ein Ungetüm von einem Blitz mit, hängte sich Bleiakkus über die Schultern: „Einerseits, um etwas Licht in die Augen der Leute zu bringen, andererseits als Teil der Inszenierung: Ah, er hat geblitzt, also doch ein richtiger Fotograf!“
Das Interpretieren wird zum Sog. Das noch mehr auf den meist bunten Fotografien der Menschen in ihren Wohnungen. Spricht da der Horror sanfter Innerlichkeit aus der ausgelaugt dreinschauenden Beate und ihrem saumselig blickenden Freund Matthias? Ein Glück: Die Kinder scheinen noch nicht angesteckt. Kann sein, dass Susanne und Norbert wirklich Violinlehrerin und Tenor sind, aber spricht Norberts krasse Kombination aus Lederhose und Uniformhemd nicht eine ganz andere Sprache? Und Susanne: Kann man eine Wohnung tatsächlich bis zur Sterilität wienern?
Aus jedem Bild stürzen dem Betrachter unbändig Eindrücke und Vermutungen entgegen, mischen sich zu Geschichten, die in etwa so zusammenhanglos dastehen wie Winfrieds Blockhütten-Holzwand im Wohnzimmer. Man ist sofort im Gespräch mit den Aufnahmen. Aus dokumentarischen Bildern werden so literarische Projektionsflächen. Irrsinnige Geschichten aus vergangenen Zeiten, in denen Details ein Eigenleben entwickeln.
Dann steht man vor der ehemaligen Obst- und Gemüsehandlung Schramm. Geschäfte wandeln sich meist langsam, legen sich mal eine neue Markise zu, eine breitere Obststiege vielleicht. Nur wenn sie schließen, verändert sich schlagartig etwas. Jetzt ist da ein weiterer Schuhladen, Fensterrahmen aus Plastik, nette Leute. Man schaut ihnen zu und kann leise bei sich denken: Zeit ist doch ein Arschloch.
Info
Harf Zimmermann. Hufelandstraße, 1055 Berlin C/O Berlin, bis 2. Juli
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