Welchen Weg geht die Wut

Roh Joan Didion auf allen Kanälen: Ihre Notizen aus den Südstaaten sind aktueller denn je. Ein Film zeigt Didions Einblicke in eine Gewalttat
Ausgabe 27/2018
Wenn du die Schlange im Blick behältst, beißt sie dich nicht
Wenn du die Schlange im Blick behältst, beißt sie dich nicht

Foto: Netflix

Dinge, Konstellationen, Mythen, Herkunft, alte Ressentiments, die Wucht menschlicher Beziehungen – Joan Didions konzentrierte Beobachtungsgabe auf die amerikanische Gesellschaft wird ihr manches Mal Migräne bereitet haben, wo andere erst und lange danach nur Umrisse wahrnahmen. Gleichzeitig pflegte die große Stilistin immer auch eine intuitive Skepsis gegenüber simpler, populärer Zustimmung zu sehr unterschiedlichen Haltungen. Aus dieser Spannung nähren sich ihre Notizen, Essays, Romane und Drehbücher.

In lakonischen Sätzen misst Joan Didion die Landschaft aus, in der sich gleich eine Geschichte austragen wird, Grund und Boden, Wetter und Wind, um dann zu ihrem Gefühl, ihrem Blick auf die Dinge zu kommen. Das Territorium bereist sie und hält sich diskret im Hintergrund. „Mein einziger Vorteil als Reporterin“, notiert Didion in ihrer berühmten Rundumsicht auf die kalifornischen 1960er Jahre, Slouching Towards Bethlehem (Stunde der Bestie, 1996),„ist, dass ich physisch so klein bin, vom Temperament unaufdringlich und so neurotisch inartikuliert, dass Menschen zu vergessen neigen, dass meine Gegenwart ihren Interessen eigentlich zuwiderläuft.“

Dabei ist ihr Stil zu überraschenden Sprüngen und Erkenntnissen bereit. Unter der Hand suggerieren ihre Bemerkungen aber auch einen untergegangenen Betrieb: Schreibarbeit, die nicht strukturiert war von ängstlichen Redakteuren, die gewagten Hypothesen alle Leichtigkeit austrieben, weil sie sie gegen journalistisches Millimeterpapier hielten. Nonchalance weht durch Didions Sprache, Unabhängigkeit.

Man kann dem gerade in ihren Reisenotizen Süden und Westen und dem ziemlich hagiografischen Netflix-Dokumentarfilm Joan Didion: Die Mitte wird nicht halten nachspüren. Der Band beginnt mit einer verblüffend unprätentiösen Abreise: „John und ich lebten auf der Franklin Avenue in Los Angeles. Ich hatte dem Süden noch einmal einen Besuch abstatten wollen, also flogen wir 1970 für einige Monate hin.“

Selbstgewisse Leichtigkeit

Was einem da beiläufig ins Gesicht springt, ist die verborgene Organisation, Mann und Tochter, eine wohleingerichtete Schriftsteller- und Journalistenfamilie – mit John ist ihr Ehemann John Gregory Dunne, der auf der Reise das Auto fährt, sonst aber nur im gelegentlichen „Wir“ der Erzählstimme vorkommt, gemeint.

Wehmut kommt auf, denn wer heute freier Autor ist, muss vor verantwortlichen Redakteuren begründen, warum er die eine Nacht im Hotel verbrachte, das 50 Euro kostete. Dann berichtet Didion nichts, sondern sie erzählt, meidet orientierende Sätze, die in Reportagen wie ein Flehen an Leser eingestreut werden, damit sie am Ball bleiben. Joan Didion aber feiert die Subjektivität: „Im Süden kam mir fast ständig der Gedanke in den Sinn, dass ich, wenn ich hier gelebt hätte, eine Exzentrikerin gewesen wäre und voller Wut, und ich frage mich, welche Form diese Wut angenommen hätte. Hätte ich begonnen, mich zu engagieren, oder hätte ich einfach jemanden mit dem Messer erstochen?“

Davon ist auch der Dokumentarfilm Joan Didion: Die Mitte wird nicht halten beeindruckt, der mit all seinen Super-8-Schnipseln, der klassischen Interview-Machart, den Fotografien und mit der offensichtlich notwendigen Musiksauce ein paar Oktaven zu opulent daherkommt. Eindrücklich diese Geschichte: Didion hatte sich – nicht lang nach ihrer Reise durch die Südstaaten – einem Fall gewidmet, bei dem eine weiße, wohlhabende Joggerin von schwarzen Jugendlichen im New Yorker Central Park verprügelt und vergewaltigt wurde. Empörung und Erzählung ähnelte Bildzeitungs-Geifer, handelnde Personen, Passanten und Donald Trump horstseehoferten ihren Senf dazu. Didions Essay ordnete mit kühler Geste den Überfall als Teil eines Machtdiskurses ein, seziert die abscheuliche Tat und die billige Empörung darüber als tiefer liegende Probleme einer historischen Disposition der USA und als Gegenwart des Kapitalismus – auch wenn sie solche banalen Begriffe mied.

Plötzlich merkt man den Gegensatz: Heute fehlt nicht nur die selbstgewisse Leichtigkeit, nicht selten auch die Nachdenklichkeit über Gewalt als Ausdruck von Geschichte und System. Und so berühren sich Film und Buch – sie erlauben einen Blick auf die Methoden, mit denen Didion vorging. Wer ihre Bücher kennt, kann in der Dokumention lernen, dass Didions Körpersprache vollständig im Sprechen aufgeht: Sie wedelt wunderbar mit den Händen, greift Worte aus der Luft. Ihr Neffe, der als Dokumentarfilmautor auftritt, aber vor allem ihr Gesprächspartner ist, destilliert Didions Motiv, indem er die heute 83-Jährige durch einen Garten laufen und antworten lässt, dass sie immer schon überzeugt gewesen sei, dass Dinge weniger angsteinflößend sind, wenn man sie untersucht: „Wenn man die Schlange im Blick behält, beißt sie einen schon nicht.“ Süden und Westen dagegen sind Skizzen zu Reportagen, Rohmaterial, zauberhafte Beobachtungen – und damit nicht nur für das Juste milieu interessant, sondern auch für jeden, der in Konföderiertenfahnen-Handtüchern, vergammelter Infrastruktur, kargem Lebensstil und der noch sehr präsenten Rassentrennung den dünnen Firnis der Zivilisation abklopfen mag.

Joan Didions Reise war eine Expedition zu einem der Ganglien der Nation, der Präsidentschaftskandidat Barry Goldwater hatte den modernen Konservatismus der USA auch damit konfirmiert, dass er 1964 das Zentrum der Partei nach Südwesten holte. Die Verbindung zum kulturell disparaten Westen meistert Didion mit wenigen, aber wuchtigen Schlüssen: „Im Süden sind sie davon überzeugt, dass sie ihr Land mit dem Blut der Geschichte getränkt haben. Im Westen glauben wir, dass nichts von dem, was wir tun, das Land mit Blut tränken, es verändern oder auch nur berühren könnte.“

Info

Süden und Westen: Notizen Joan Didion Antje Rávic Strubel (Übers.) Ullstein 2018, 160 S., 18 €

Joan Didion: Die Mitte wird nicht halten Griffin Dunne (Regie), Netflix 2017, 1 h 38 min.

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