Welche Liebe zu welcher Weisheit?

Philosophie Gut eine Woche ist es her, dass ich mich fragte, was Philosophie wohl im besten Sinne des Wortes sein könnte. Folgendes habe ich dazu notiert

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Das aus dem Altgriechischen stammende Wort Philosophie ist in allen modernen Sprachen ein Fremdwort, sogar im heutigen Griechisch. Denn die Griechen, die das Wort aufbrachten, lebten vor zweieinhalbtausend Jahren und haben sich bei philosophía ganz bestimmt anderes gedacht als ihre derzeitigen Landsleute.

Mit dem gegenwärtigen und dem längst vergangenen Deutsch ist das ähnlich. Wir brauchen uns zum Beispiel keine zweieinhalb Jahrhunderte zurückzuversetzen, damit uns der seitherige Bedeutungswandel des Wortes Zeitung auffällt. Wenn es in Schillers Drama "Die Räuber" heißt "Diese Zeitung ist nicht für einen zerbrechlichen Körper", dann konnte es sich zwar bereits um ein journalistisches Presseerzeugnis handeln, doch in der Szene, aus der ich hier zitiert habe, ist das nicht der Fall. In dieser ist es vielmehr eine persönliche Nachricht, die einem Vater von dem einen über den anderen seiner Söhne überbracht wird und womit das Trauerspiel seinen Lauf nimmt. Dieses ältere, sozusagen vorgutenbergische Verständnis ist mittlerweile nicht mehr im deutschen Sprachgebrauch, so dass Zeitung in diesem Sinn wie ein Fremdwort anmutet. In absehbarer Zeit dürfte sogar die Zeitung als Printmedium ganz aus der Mode kommen. Das wiederum könnte freilich dazu führen, dass der anfängliche Wortsinn eine Renaissance erfährt und Zeitung wieder einfach nur Nachricht bedeutet, egal in welcher Form.

Wir übersetzen heute das Wort philosophía meist mit Liebe zur Weisheit; denn das griechische Wort ist aus zwei anderen Worten zusammengesetzt, aus phílos und sophía. Auch im Deutschen wäre die Zusammensetzung widerzuspiegeln: Weisheitsliebe. Das könnte aber missverstanden werden. Weisheitsliebe kann sowohl meinen, dass Weisheit geliebt wird, als auch, dass Weisheit liebt. Also ist es unmissverständlicher, uns umständlicher auszudrücken und Liebe zur Weisheit zu sagen.

Für viele läuft es auf dasselbe hinaus, ob man Liebe zur Weisheit oder Streben nach Wissen sagt, wenn von Philosophie die Rede ist. So beginnt die "Metaphysik" des Aristoteles mit der Aussage: "Alle Menschen streben von Natur nach Wissen." In einem zusammengesetzten Wort können wir dieses Streben mit Wissbegierde oder auch Neugierde wiedergeben. Aristoteles selber führte die so verstandene Philosophie sogar auf die allzu menschliche Schaulust zurück.

Damit lässt sich eine Brücke zu einem bedeutenden Denker des 20. Jahrhunderts schlagen: zu Ludwig Wittgenstein. Der gilt zwar weithin als großer Philosoph, wollte aber selber weder Philosoph noch Denker sein. Das hat er in einer Anweisung ausgedrückt, die er einmal, in den "Philosophischen Untersuchungen", sich selber gab: "Denk nicht, sondern schau!" Mir scheint, dass er bloß kein Allerweltsphilosoph gewesen ist, ein ursprünglicher Philosoph indessen durchaus. Ähnlich verhält es sich mit seinem älteren Zeitgenossen Edmund Husserl, dem Begründer der philosophischen Phänomenologie. Insofern man mit ihm von Phänomenen statt von Objekten sprechen kann, die es zu untersuchen gilt, kommt die Philosophie einer Wesensschau gleich, und zwar durchaus keiner mystischen, sondern einer "streng wissenschaftlich" vorgehenden.

Ob ein solcher Phänomenologe den Fragen eines Sokrates standhielte? Der begnügte sich jedenfalls nicht mit bloßen Anschauungen, sondern wollte alles, was ihm Leute vom Fach zu verstehen gaben, genauer wissen. Er konsultierte diese Leute, weil er sich selber für alles andere als den Weisesten hielt, obwohl er in genau diesem Ruf stand. Die Fachleute enttäuschten ihn. Sie gaben alle nur vor, etwas zu wissen, konnten jedoch nicht wirklich Rechenschaft über dieses Wissen geben. Sokrates wusste wenigstens um seine Unwissenheit. Damit war er der einäugige König unter lauter Blinden. Und dergestalt tatsächlich der weiseste. Seine Liebe zur Weisheit verbot ihm, sich selber Weisheit anzumaßen. Im Spätmittelalter brachte Nikolaus von Kues dieses Philosophieverständnis auf die Formel docta ignorantia: belehrte Unwissenheit.

Auch für diese paradoxe Art der Wissbegierde hat es im 20. Jahrhundert eine Entsprechung gegeben, kritischer Rationalismus genannt und von Karl Popper in seiner “Logik der Forschung” in den Leitspruch gefasst: "Wir wissen nicht, wir raten." Das gilt nach ihm zumindest für die Erfahrungswissenschaften. Erfahrungen können zu keiner Weisheit letztem Schluss führen; denn es können immer noch Erfahrungen ausstehen, die ein bisheriges Erfahrungsurteil über den Haufen werfen. Man kann bei einem solchen Urteil, einer "empirischen Hypothese", also allenfalls zu einem Gegenbeweis gelangen, einer "Falsifikation", nie zu einem endgültigen Beweis, einer "Verifikation". Mit anderen Worten: kritische Rationalisten halten sich die Zukunft offen – aus Liebe zur Weisheit.

Alternativ zu Liebe sind in dieser meiner "Zeitung" die Worte Streben, Begierde und Lust gefallen. Was ist von dieser Bandbreite deutscher phília-Übersetzungen zu halten? Meines Erachtens deutet sie einen Scheideweg an: die Scheidung der Philosophie in eine Angelegenheit des Herzens und eine Angelegenheit des Willens. Damit soll nicht gesagt sein, dass es zweierlei Philosophierende gäbe. In jedem Menschen, also auch jedem Philosophen, ist sowohl ein Wille als auch ein Herz aktiv, ein Wille zum Wissen und ein Herz für die Weisheit. Es kann nur passieren, dass zwar das Herz höchstens von Zeit zu Zeit einmal etwas schneller schlägt oder auch für eine kleine Weile stillsteht, der Wille allerdings völlig außer Rand und Band gerät. Keinesfalls die Weisheit, sehr wohl aber das Wissen ist ein gefundenes Fressen für das ausufernde Begehren. Denn "Wissen ist Macht" – nach dem Glockenschlag, mit dem Francis Bacon (in seinen Essays) vor 400 Jahren die modernen Zeiten einläutete. Und eine Philosophie, der um des Wissens willen an Weisheit nicht mehr viel gelegen ist, nimmt mit einem "Willen zur Macht" – diesem Nietzsche-Code – weltverändernde Fahrt auf. Doch gerade mitten aus dieser Raserei kann eine hohe Zeit des Herzens für die Weisheit hervorgehen – höchste Zeit dafür ist es bestimmt.

Herz steht hier gewiss nicht für einen Kontrast zu Sinn und Verstand, sondern für die praktische Vernunft, die dem Übermaß, der Unverhältnismäßigkeit, dem Mutwillen Grenzen aufzeigt, ohne einer irgend vertretbaren Herzensangelegenheit im Weg zu stehen – eine zukunftsoffene und zugleich entschleunigende Philosophie.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Leo Allmann

M.A. Philosophie

Lesefreudiges Nachkriegskind

Leo Allmann

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