„Was mich berührt …“

Dokumentation Bis 1989 stehen Bücher von Stefan Heym in der DDR auf dem Index. Er hat mit dem „Sonntag“ eine Rechnung offen, als der ihn für die Ausgabe vom 3. Dezember interviewt
Ausgabe 44/2019

Sonntag: In Ihrem autobiografischen Buch „Nachruf“ wird deutlich, dass Sie nicht die besten Beziehungen zum „Sonntag“ haben. Als 1979 gegen Sie ein Verfahren wegen Devisenvergehens eingeleitet worden war, weil Sie Ihren Roman „Collin“ im Münchner Bertelsmann-Verlag veröffentlicht hatten, bezeichnete ein „Sonntag“-Autor das Buch als „antikommunistischen Schmarren nach Konsalikschen Mustern“. Ist das heute noch wesentlich für Sie?

Stefan Heym: Diese Art des Umgangs mit Intellektuellen hat das Land in hohem Maße geschädigt, und Ihr Blatt hat kräftig dazu beigetragen.

Mir ist es wichtig, darüber zu sprechen, weil ich diese Dinge auch für mich nicht verdrängen will.

Waren Sie damals schon beim „Sonntag“?

Nein, erst seit fünf Jahren.

Dann haben Sie das trotzdem noch mitgemacht, auch die letzten fünf Jahre waren eine Zeit der Unterdrückung.

Wir haben gegen massive Widerstände versucht, wichtige Bücher zu besprechen. Unter anderem auch Ihren Roman „Ahasver“.

Ja, nachdem der in der DDR verlegt wurde, doch gab es das Buch schon Jahre vorher. Der „Sonntag“ hat nicht darüber gesprochen, was im anderen Teil Deutschlands erschienen ist von Autoren, die hier leben. Ein Blatt mit Ihrem Anspruch hätte ja wohl die Pflicht gehabt, so etwas zu berichten. Der „Sonntag“ ist für Glasnost keineswegs berühmt.

Akzeptiert. Obwohl es viel dazu zu sagen gäbe, die Redakteure hatten nicht mal Zugang zu westlichen Zeitungen. Heute, da jeder Einzelne über die Verantwortung für die Vergangenheit nachdenken muss, fallen sehr schnell die Worte „Mitschuld“ und „Das darf nie wieder passieren“. Nun hat Sprache nur eine begrenzte Anzahl von Synonymen für einen Sachverhalt. Trotzdem erschreckt mich, dass es das gleiche Vokabular ist, das uns aus der Zeit nach 1945 überliefert wurde. Empfinden Sie die Situationen als in starkem Maße vergleichbar?

Sie sind völlig zu Recht erschrocken. Von der Konstellation her ist das sehr ähnlich. Ein Regime hat fehlerhaft gehandelt und ist schuld an viel menschlichem Leid. Doch vor allem ist es schuld am Bankrott einer so guten Sache, wie es der Sozialismus ist. Jetzt stehen wir alle vor einem Scherbenhaufen. Plötzlich sagen alle: Wir sind schuld, und häufen sich Asche aufs Haupt. Sie sagen sogar: Wir übernehmen Verantwortung. Aber wie die Übernahme der Verantwortung aussehen soll, davon sagen sie nichts. Ich bemerke auch nichts in dieser Richtung. Das sind unerfreuliche Erscheinungen einer an sich erfreulichen Periode. Aber Menschen sind Menschen. Viele haben eben in der DDR ihr Heil darin gefunden, auf der Seite der Mächtigen brav mitzumarschieren und zu tun, was von ihnen gefordert wurde, selbst wenn sie wussten, dass es falsch war.

In diesen Tagen erscheint „Fünf Tage im Juni“, Ihr vor mehr als 30 Jahren verfasstes Buch über den 17. Juni 1953. Empfinden Sie das als Wiedergutmachung?

Was ich dabei empfinde – das sind weder Genugtuung noch Schadenfreude.

Für mich liegt ein Wert Ihres Buches darin, dass ganz unterschiedliche Leute mit ihren Motiven in diesen Junitagen des Jahres 53 beschrieben werden, letztlich in ihrer Begrenztheit. Sie passen nicht in die Schablonen unserer Geschichtsbücher. Oftmals werden sie geradezu gegen ihre eigenen Interessen zu Handlungsträgern von Ereignissen.

In meinem Buch ist nicht jede Zeile eine absolute letzte Weisheit. Ich habe damals aus der Zeit heraus geschrieben, nicht alles gewusst, allerdings mehr als jeder andere hier, weil ich Recherchen gemacht habe, soweit sie sich machen ließen. Ich habe etwa mit Fritz Selbmann, 1953 Minister für Schwerindustrie, gesprochen und vielen anderen Leuten. Das Buch ist in zwei Fassungen geschrieben worden, die erste war wesentlich milder als die zweite. Schon nach der ersten habe ich die wütende Reaktion der hohen Herren erlebt.

In einem Gespräch über „Fünf Tage im Juni“ haben Sie sich als einzig wahren sozialistischen Realisten bezeichnet. Ich bin froh, auf jemanden gestoßen zu sein, der anscheinend erklären kann, was sozialistischer Realismus ist?

Sozialistischer Realismus hätte ein Realismus mit einer sozialistischen Perspektive sein müssen – so einfach habe ich ihn immer definiert. Die anderen Definitionen, die so gegeben wurden, sollten nur die Verlogenheit verbrämen und entlarven sich selbst. Die Doppelzüngigkeit war eine widerliche Zeiterscheinung.Man war einfach nicht bereit, die Fakten anzuerkennen, und das ging ja noch bis vor ein paar Wochen so. Heute stellt man fest, dass der Genosse Mittag dem Genossen Honecker falsche Zahlen vorgelegt hat. Ich weiß nicht, warum, wahrscheinlich um ihn zu trösten. Im Literaturbetrieb dieses Landes war es genauso. Ein Schriftsteller, der lügt, kann nicht gut schreiben, denn die Lügen scheinen durch. Wir haben viel Papier auf falsche Literatur verwendet.

Als ich Sie am 4. November auf dem Podium am Alexanderplatz sah, habe ich mich gefreut, dass Stefan Heym jetzt dort steht und sprechen kann. Über diesen 4. November äußerten Sie: „Dieser Tag ist der besondere Höhepunkt einer Revolution, die hier eingesetzt hat und die sicher Folgen haben wird für ganz Deutschland und Europa. Die Menschen sind zu einem Reifegrad gelangt, wie es selten ist in der Weltgeschichte.“ Haben Sie auf dem Alex eine Art Genugtuung empfunden?

Die reine Freude – ich hatte das Gefühl, dass diese Menge mir in ihrer Mehrheit Freundschaft anbot. Und das ist etwas, was mich berührt hat. Denn ich war als Autor wie als Mensch nie auf Popularität bedacht. Natürlich habe ich stets so geschrieben, dass man mich verstanden hat – ich habe kein elitäres Gequatsche von mir gegeben. Aber ich habe mich auch nie mit Sprache angebiedert, sondern immer viel Verständnisfähigkeit verlangt. Umso schöner war es, diese Verbundenheit zu spüren.

Sie sind in die klassische Rolle eines Volkstribunen geraten.

Man muss sich jetzt sehr hüten, etwas politisch Falsches zu sagen, weil es verheerende Folgen haben kann. Man kann die Freundschaft dieses Volkes sofort verlieren, was ich ungern täte, oder man kann es veranlassen, etwas Falsches zu tun oder zu denken. Und das wäre natürlich besonders schlimm.

Christa Wolf hat an alle appelliert, hier im Land zu bleiben. Sie haben sich ihr angeschlossen. Trotzdem: Möglicherweise hält man Leute ab, einen Weg zu gehen, der sie zufriedener macht. Man lebt nur einmal …

Da habe ich gar keine Bedenken. Ich glaube, dass es den Leuten unter Umständen drüben etwas besser gehen würde, aber andererseits glaube ich, dass wir die Menschen hier jetzt viel mehr brauchen. Der interessantere Teil von Deutschland ist jetzt hier. Wer also darauf verzichtet, das mitzuerleben, der hat es sich selbst zuzuschreiben.

Über Jahre haben Sie unnachgiebig analytisch in westlichen Medien über die Entwicklung in der DDR gesprochen. Ihre Beharrlichkeit, Verantwortung für dieses Land zu übernehmen, hat vermutlich manchem Halt gegeben und die Entscheidung, hier im Land zu bleiben, beeinflusst.

Meinen Sie, dass das so weit geht, dass die meinetwegen hiergeblieben sind?

Ich glaube, dass eine Stimme, der man nahesteht, wesentlich sein kann für eine Entscheidung. Ein Land kann trostlos werden, wenn seine Intellektuellen es verlassen.

Bleiben wir mal bei Letzterem. Dadurch, dass so viele Schriftsteller aus der DDR weggegangen sind, ist natürlich eine Verarmung eingetreten. Und sie sind drüben nicht glücklicher geworden. Ihnen wurde ihre eigentliche Thematik entzogen oder sie haben sie sich selbst entzogen. Es gibt dort jetzt Autoren, die sehr hübsche Fernsehserien schreiben, sehr lustig und schön und begabt, aber das ist nicht ihre eigentliche Vorliebe und eigentliche Aufgabe.

Sie haben sich immer sehr deutlich für den Erhalt der sozialistischen Gesellschaftsordnung ausgesprochen. Was wäre für Sie deren entscheidende Qualität?

Das ist sehr schwer zu sagen. Wir alle suchen jetzt danach, nachdem der stalinistische, real existierende Sozialismus für alle erkennbar Bankrott gemacht hat. Ich würde sagen, dass ein Merkmal des neuen Sozialismus sein muss, dass die entscheidenden Produktionsmittel in kollektiver Hand sind. Wie das nun im Einzelnen aussehen soll, ob das Genossenschaften sein könnten oder Gesellschaften, deren Aktien in den Händen der Arbeiter liegen, sodass sie daran interessiert sind, was mit ihrem Besitztum geschieht, weiß ich nicht.

Sie betonen häufig, dass hier Stalinismus herrschte, nicht Sozialismus.

Das muss man schon sagen, damit man nicht die Konsequenz zieht, weg mit dem Sozialismus, zurück zum Kapitalismus. Es muss eine Alternative geben, die nicht kapitalistisch ist.

1979 wurden Sie zusammen mit anderen aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen. Dies sollte jetzt am 2. November zurückgenommen werden, doch es kam nicht dazu: Die einen sagten, mit einem Federstrich allein könne man das Unrecht nicht wiedergutmachen; andere waren zwar für die Rücknahme des Ausschlusses, hielten aber eine Entschuldigung für nicht akzeptabel. Wie müsste man Ihrer Meinung nach mit diesem Stück Geschichte umgehen?

Ich kann den Kollegen im Schriftstellerverband keine Vorschriften machen. Sie müssen wissen, was sie wollen.

Wird dieser Beschluss aufgehoben, wären Sie dann bereit, wieder Mitglied zu sein?*

Ich muss feststellen, dass ich außerordentlich glücklich ohne Schriftstellerverband gelebt habe. Überhaupt bin ich der Meinung, dass der Verband in seiner jetzigen Form nichts taugt und entweder an Haupt und Gliedern reformiert oder aufgelöst und durch einen neuen ersetzt werden müsste.

Info

* Ende November 1989 revidierte der Verband die Ausschlüsse von 1979

Info

Dieser Beitrag ist Teil unserer Wende-Serie 1989 – Jetzt!

Das hier in einer gekürzten Fassung wiedergegebene Gespräch führte Leonore Brandt

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