Im Westen nichts Neues

Documenta Kriegstagebuch von der Kasseler Ausstellungsfront

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Im Westen nichts Neues

Zeichnung: Christoph Bannat, 2012

Heute im Jahre 2362 erscheinen uns einige Begriffe in diesem historischen Tagebuch, das vor nun auch schon fast einem halben Jahrzehnt bei Bauarbeiten in den Kasseler Auen gefunden wurde, fremd. Fremd geworden sind uns aber nicht nur diese, sondern auch die Stimmung, die Begeisterung, mit der die Menschen, freiwillig muss hier unterstreichend hinzugefügt werden, zu jener Zeit an die Ausstellungsfront gezogen sind. Nach der großen Katastrophe, der zweiten globalen Verpixelung, welche unsere Generation aufs tiefste und nachhaltig geprägt und, ja das muss hier einmal gesagt werden, traumatisiert hat, sind solch historische Funde, wie dies Tagebuch einer ist, ein gutes Beispiel, um etwas über die Sorgen und Nöte unserer Vorfahren zu erfahren. Mit diesem historischen Dokument möchte ich dem große Historikerstreit, der im letzten Jahr zu großen Zerwürfnissen innerhalb der Gemeinde geführt hat, etwas an Schärfe nehmen und daran erinnern, unter welchen, zum Teil erbärmlichen Umständen unsere Vorfahren gelebt haben.

Einige Begriffe sind erklärungsbedürftig, manche konnten nicht mehr eindeutig geklärt oder entschlüsselt werden (wie die Initialien der Namen). Wohl auch, weil der Schreiber aus Furcht, dass das Tagebuch in feindliche Hände geraten könnte, diese Namen nicht preis gab.

1. III.12
Heute Einberufungsbescheid. Bin k.V. Freue mich jetzt schon auf die anderen Beutegermanen. In Berlin totale Mobilmachung des gesamten Kulturbetriebs.

31. III.12
Einberufungsbefehl an die Ausstellungsfront West ist eingetroffen. Marschbefehl Richtung Kassel im Herzen Deutschlands. Vorhut. Noch mal Clausewitz gelesen, schließlich gehöre ich jetzt zur Avantgarde, wenn auch nur zur Nachhut der AV., innerhalb der Ausstellungsmaschinerie. Die ersten sind schon seit Januar und teils noch früher vor Ort und eruieren das Terrain. Zur Zeit kommt das einfache Menschenmaterial in lockeren Nachschublinien aus der Hauptstadt eingetrudelt. Die Kasselaner selbst können die Stellung allein nicht halten. Ich erwarte einen aufreibenden Stellungskrieg. Für Verpflegung und Heldenkeller ist gesorgt. Sold stimmt. Die Ungewissheit, ohne festes Feindbild auskommen zu müssen, zehrt an den Nerven. Aber die Ideale: der guten Sache dienen, die Kameradschaft und die „Schule des Lebens“ überwiegen. Endlich raus aus dem Dasein als Einzelkämpfer an der Ausstellungsfront (Abschnitt Ost). Dicht am Puls der Zeit und nahe dem Schicksalsrausch(en) zu sein, steigert die Euphorie und mobilisiert neue Kräfte. Und der Stolz zur ersten Garde, Regiment V.A., Bataillon K.S. und nicht zum Volkssturm zu gehören. Die Zwölfender kommen später, wird uns gesagt.

21.IV.12
Bereits eine Woche vor Ort. Erkunde als Bildungslandser die Umgebung unseres Heldenkellers. Rothenberg, Anhöhe Mercedes-Benz-Platz. Suche nach einem Druckposten. Tagsüber Übungen im Gelände, Baumarkterkundungen, Schrauben Lange, Löhne, toom und Hellweg. Am Wochenende. Spaziergänge durchs Gold der Aue, vorbei an „Gärten und Straßen“.

28.IV.12
Heute erste Feindberührung. Friedlicher Spaziergang zur Wilhelmshöhe. Plötzlich aufziehender Theorienebel. In dem paramilitärische Diskurswächter patrouillierten. Zum Glück allzeit bereit und bewaffnet. Gehe in Deckung. Werde entdeckt. Werfe einige Blendgranaten der Ironie. Dann merke ich, dass das Feld, auf dem ich stehe, total meinungsvermint ist. Hab zum Glück mehrere Magazine Sarkasmus dabei. Feuer was das Zeug hält, bis in die Dämmerung. Zum Glück etwas Stalintorte im Handgepäck. Das reicht für die Nacht. Bei einbrechender Dunkelheit. Mache mich flach wie ein iPad, während die Erde von Praxissalven aufgewühlt gen Himmel spritzt. Ein böser Hinterhalt. Werfe mir das Tarnnetz der Phantasmagorie über, einen letzten Blick auf den sternklaren Himmel, und schlafe friedlich ein, während draußen die Wirklichkeitsfanatiker weiter wüten.

29.IV.12
Am Morgen starkes Meinungsgewitter. Sofort ist der Boden aufgeweicht. Der Theorienebel hat das Gelände in einen zähen Schlamm verwandelt. Versuche das Parodiebataillon im Kessel zu erreichen. Die sollen mich hier rausholen. Aber sinnlos. Komme kaum weiter. Rückzug durch mannshohen Rigips. Der verfluchte Trockenbau. Mir kommen Zweifel an dem ganzen Vorhaben. Die Bilder von der Heimat im Kopp. Immer noch an der Wilhelmshöhe. Blick ins Tal. Von Zeit zu Zeit erhellt digitales Zwangsblitzgewitter die romantische Blickachsenorgie. Immer noch im Barockpark. Die Schlossruine als Vanitas-Motiv vor Augen. Jetzt echt – denke ich. Überall in den Bäumen zerfetzte Leinwände. Der ganze Waldboden übersät mit Splittern getrockneter Ölfarbe. Eine surreale Krümelschicht aus Jahrhunderten. Vom harten Bronxe-Dödel des Herkules tropft es ununterbrochen. Die Vorstellung macht mich ganz wuschig. Dann, langsamer Rückzug in die Aue. Dort treffe ich auf ein Bataillon Jugendkuratoren, die für die nächste Wirklichkeitstri- oder biennale trainieren, als wäre nichts passiert.

1.V.12
Zuhause. Am Schießstand leichte Paintballgymnastik. Melancholische Anfälle: Was bleibt dem Fußlappenindianer: Zeige Deine Wunde(r). Dem Heimkehrer: Postkarten und Kunstraub (s. Goldenes Vlies ). Wenn Geld nicht mehr zählt. Knietief im Kunstschlamm(assel). Doch jetzt ruft das Feldbett. Trost: Morgen beginnt ein neuer Tag.

12.V.12
Der neue Tag bringt uns die Schlacht von Alsob. Starke Einkasselung. Und mediales Trommelfeuer. Am Mittag geben wir das Städtchen Alsob aus taktischen Gründen auf. Am Abend meine Feuertaufe durch schweren Theoriebeschuss. Flucht nach Achwas. Versuchen verzweifelt die Stellung zu halten. Ertappe mich in der Feuerpause, wie ich mich nach einem Kavaliersschuss sehne. Kann meine Kameraden nicht allein lassen. Zum Glück spielt das Wetter mit. Väterchen Frost gibt den Weg frei.

13.V.12
Skandal wg. Artsniper. Friendly Fire vom Kirchturm. Der Feigling sucht Kirchenasyl und spielt das Unschuldslamm im MG-Nest. Glaubt mit weißem Kragen durch das Schlamassel zu kommen. Sobald er Kunstboden betritt, wird er bajonettverziert und feuerwerfergetauft. Für den wird ab jetzt jeder Versicherungsfall eine Schönheits-OP. Den bomben wir zurück nach Lascaux. Hat der nicht kapiert, dass auch Freiwillige sich an der Ausstellungsfront hinten anzustellen haben? Wo bleibt sonst die Ordnung. Hat der überhaupt gedient? Ganz schlimme Wehrkraftzersetzung. Doch dadurch wächst die Truppe nur noch fester zusammen.

14.V.12
Versuche meine Eindrücke vor Ort festzuhalten. Zu schnell, oft schon am darauf folgenden Tag werden Heldensagen draus.

15.V.12
Heute hat der Häuserkampf um Achwas begonnen. Verbissen wird um jeden Quadratzentimeter Teppichboden gekämpft. Schöne Vanitasmotive im Abbruchhaus. Einsatz beim Ex-Chinesen, Ex-Hospital, Ex-Kaskade, Ex-C&A, Ex-Moschee, Ex-Hugenottenhaus, Ex-Bunker. Ex-DDR, Ex-Yugoslawien, Ex-Sowejetunion. Die letzten Zwölfender treffen ein. Wir machen unsere schönen Quartiere frei. Plötzlich gibt es wieder Feldpost (wehlan A.d.Ü.). Die Gedanken an die Heimat und die werte Gattin schmerzen. Würde meinen kleinen Wehrbeitrag gern mal wieder sehen.

16.V.12
„Die Wahrheit stirbt zuerst an der Ausstellungsfront“, habe den schönen Satz aus der Morgenandacht. Generalin CCB hält das Regiment zusammen. Heute Ansprache in der Offiziersmesse. Lob der Papieroffiziere, die stundenlang aus dem Schützengraben das Geschehen für die Nachwelt aquarellieren. Viele Latrinenparolen. Zum Glück zeigen sie keine Wirkung. Draußen heißt es ja, die Front bröckelt. Hier erlebe ich das Gegenteil. Stimmung 1a.

4.VI.12
Heute große Ansprache. Die letzten Kräfte für den Endsieg werden mobilisiert. Parole: Konzeptlos durchstoßen, das aber in Keilformation. Codewort: Erdbeere. Nur noch drei Tage. Die letzten Extraportionen. Letzte Nachschubzüge an Untergefreiten aus der Hauptstadt. Viele a.v.s dabei. Wir füttern die dicke Berta Tag und Nacht. 25 Mille verpulvert man nicht an einem Tag.

5.VI.12
Ohne Schlaf. Bat. aufgerieben. Den Kassler-Kessel bis zum letzten Mann verteidigt. Warten auf den Volkssturm.

6.VI.12
Die Presse kommt. Überall suprematistische Fahnen – weiß in weiß. Heute wurde die Kapitulation unterschrieben. Aktionsplan Morgenthau tritt am 9.6.2012 in Kraft. Die documenta ist nun Unesco-Weltkulturerbe und fällt unter die UN-Menschenrechts-Charta. Für Heimkehrer heißt es: raus aus der Uniform, rein ins Zivilleben. Jetzt nur noch an den Meinungshütern vorbei. Raus aus MDF und Multiplex, Schrägschnitten und Spreizdübeln, rein in die Traumatherapie. Das Schlamassel will aufgearbeitet werden. Freue mich jetzt schon auf die Kameradschaftstreffen in B. Bis in fünf Jahren, dann sehen wir uns wieder an der Ausstellungsfront-West. Bis dahin heißt es Kräfte sammeln, und Aufrüsten bis die Art kommt.

Zuerst erschienen in vonhundert.


Hier einige Erklärungen:

k.v.==kriegsverwendungsfähig

Clausewitz==Carl Philipp Gottlieb von Clausewitz (* 1. Juli 1780 als Carl Philipp Gottlieb Claußwitz in Burg bei Magdeburg; † 16. November 1831 in Breslau). Militärphilosoph.

Avantgarde==militärischer Aufklärungstrupp, geht dem Feld voran.

Volkssturm==Truppen aus Zivilisten zusammengestellt

Heldenkeller==soldatische Unterkunft

a.v.==arbeitsverwendungsfähig, heißt in diesem
Zusammenhang kriegsunfähig.

Beutegermane==Freiwilliger aus dem ehemaligem
großdeutschen Reich

Berlin==Hauptstadt des ehemals Deutschland
genannten Gebiets

Christoph Bannat geb. 1960 in Hamburg.Siebdrucker, Gesellenbrief, Diplom Künstler, Studium Hochschule d.Künste Hamburg. Künstler, Aufbauhelfer, Journalist, Autor, Kurator. Lebt in Berlin.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Christoph Bannat | Let's Talk About Art

Sprechen wir über Kunst. Ein zweisprachiges Forum für Beiträge über Kunst – initiiert von Janine Sack Künstlerin und Art-Direktorin

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