13. November 2015 – ein blutiger Freitag

Paris, Attentate Meine ersten Gefühle in Nacht nach den Anschlägen von Paris. Die Nachrichten vom Ticker waren nicht zu glauben und doch wahr.

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Und doch holt uns die Wirklichkeit, an der wir alle die letzten Jahre mitgewirkt haben, ein. Die Attentate von Paris sind so furchtbar, dass es schwer ist, darüber zu schreiben. Und doch will es raus. Weil ich die Gefahr sehe, dass sich an diesem schrecklichen Ereignis die martialischen Gedanken einiger weniger wieder hochspulen und die Situation noch mehr anheizen.

Nun doch der Reihe nach. Der 11. September 2001 in New York, das Bombenattentat auf den Zug in Madrid am 11. März 2004, und jüngst das grausame Massaker auf Charlie Hebdo am 7. Januar 2015, der vereitelte Angriff auf den Thalys-Schnellzug von Brüssel nach Paris am 21. August 2015, die Flugzeugkatastrophe von Sinai am 31. Oktober 2015 und letztlich die Anschlagsserien vom 13. November 2015. Mehr noch, wenn ich an Beirut (12.11.2015) denke oder Mumbai (26.11.2008) oder die Angriffe verzweifelter palästinensischer Jugendlicher auf jüdische Menschen, die Vernichtung kultureller Güter im Nahen Osten durch Taliban und IS ... Wohin führt das alles und was können wir dagegen tun?

Ja, auch ich möchte hier das Wort "Kämpfen" benutzen, aber bitte steckt die vorgezogenen Waffen ein. Es geht um einen Kampf für die Menschlichkeit für alle Menschen in dieser Welt, nicht nur für die sich wohlbehütet glaubenden Verteidiger der westlichen Wertegemeinschaft. Auch der Mensch in der arabischen Welt hat ein Recht auf Leben und Existenz, wie der Mensch in Afrika, in Fernost, in Lateinamerika, in Osteuropa. Überall dort herrscht als Resultat der Kolonialpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts unter der Mehrheit der Bevölkerung Armut. Wir reiche Europäer und die Amerikaner nutzen unsere jetzt noch bestehende, aber immer mehr ins Wanken geratende Wirtschaftskraft aus, um beispielsweise dem Nahen Osten das Öl billig abzuknöpfen, das Elfenbein aus Afrika herauszutragen, das IPHONE zum niedrigsten Preis in Asien zu produzieren, den Regenwald abzuholen oder den Osteuropäer zum Lohndrücken gegen uns selbst auszuspielen.

Wie viele Tote muss es durch Kriege und dem draus resultierenden Terror noch geben, dass wir Menschen uns von Gier und Neid endlich trennen und einfach nur ein lebenswertes Leben leben? „Wer möchte nicht im Frieden leben ...“ ein Kinderlied aus dem DEFA-Film „Sie nannten ihn Amigo“ – übrigens über den zweiten Weltkrieg. Dieser Wunsch von damals sollte uns alle einen, die sich nichts sehnlicher wünschen, als abends zum Konzert oder zum Fußball oder ins Kaffee zu gehen.

Jetzt melden sich schon wieder die Besserwisser von den Antiislambewegungen in Deutschland zu Wort und schwingen das Schwert über den Geflüchteten. Sie holen aus zur verbalen Kampfansage gegen die Menschen, denen dieser Terror von Paris täglich auf den Straßen von Syrien, dem Irak, Israel, Palästina, Nord- und Zentralafrika oder Lateinamerika begegnet und wovor sie hierher in die vermeintliche Sicherheit fliehen. Sie wissen sicherlich, dass es unsere westlichen Bomben, unsere westlichen Granaten und Kugeln sowie Minen sind, die ihnen dort das Leben zur Hölle machen. Doch sie vertrauen darauf, dass Länder wie Deutschland ihnen eine sichere Zukunft geben können, bis sie wieder zurück in ihre Heimat können. Die Menschen, die hierher kommen, sind nicht schuldig an den Attentaten von Paris oder Beirut oder Mumbai …

Vielleicht haben wir in Deutschland noch Glück, dass unsere Willkommenskultur von den vielen freiwilligen und hauptamtlichen Helfern, nicht von Politikern wie Seehofer oder de Maisiere oder Schäuble, und der starke Wille und Druck der Opposition von Linken und Grünen zur Verhinderung von noch mehr Auslandseinsätzen und Waffenverkäufen den unterdrückten Völkern zeigen, dass es in Deutschland noch eine friedliebende Seite des Westens gibt. Frau Merkel hat mit ihrer Aktion Ende August Menschlichkeit und Größe bewiesen. Sie war durch wen auch immer gut beraten, dem Druck aus den eigenen Reihen und von den Antiislamstimmungsmachern der Straße nicht nachzugeben. Vielleicht hat auch sie uns bisher vor Schlimmerem bewahrt. Vielleicht, vielleicht …

Der Horror wird kein Ende nehmen, so lange wir nicht alle wachrütteln, die Ballermänner wegstecken und uns gemeinsam mit den Menschen, die aus welchen Gründen auch immer anderen Menschen Leid antun, an einen Tisch setzen und sie fragen, wie sie sich das Leben vorstellen, was sie leben wollen. Wenn wir, nicht wie aktuell in Wien, über die Köpfe Betroffener hinweg über die Zukunft anderer Länder verhandeln ohne die Betroffenen an diesem Diskurs zu beteiligen. Es ist doch erbärmlich, wenn in Wien ohne die syrischen Seite anzuhören, über deren Zukunft verhandelt wird. Es geht schon lange nicht mehr darum, welche Rolle ein Assad spielt als Marionette zwischen den Machtbestrebungen zwischen Russland und dem Rest der Welt. Es geht um die vielen Menschen, die durch dieses Tauziehen zwischen Moskau, Washington und Brüssel, zwischen Riad, Jerusalem und Teheran unter die Räder von Panzern und Truppentransporten kommen. Wo liegen die Konzepte der friedlichen Lösungen von Friedensnobelpreisträgern wie Obama oder der Europäischen Union, die ohne Waffengewalt die Kriege dieser Welt, die seit dem Untergang des Ostblocks exponentiell zugenommen haben, zu beenden und Frieden zu schaffen?

Ja, es ist viel Wut in meinem Bauch. So viel Wut auch über mich, der nur durch sein Wahlbekenntnis und mit kleineren ehrenamtlichen Aktionen ins Weltgeschehen eingreifen kann. Frustration, dass ich vermeintlich damit nichts erreiche. Ärger über die Menschen, die Angst haben, mit Bedürftigen teilen zu müssen oder gar auf ihren Wohlstandsluxus verzichten müssten. Trauer über die Menschen, die in Paris am 13.11.2015 und am 07.01.2015 ihr Leben lassen mussten, weil sich Gewaltverbrecher, wo auch immer sie herkamen, das Recht herausnahmen, Richter sein zu dürfen. Diese abscheulichen Taten dort und anderswo sind durch keinen Gott zu rechtfertigen und durch keinen Gott zu richten. Es sind Taten, die von uns allen friedliebenden Menschen geächtet werden müssen, um das friedliche Zusammenleben von Menschen aller Couleur zu verteidigen oder gar erst möglich zu machen. Auf der Straße, wenn die Islamfeindlichen Gruppen am Montag die Attentate von Paris instrumentalisieren werden, wenn Seehofer und Co auf die Bühne treten und ihre Hassparolen gegen die Geflüchteten herausbrüllen, wenn Bekannte ohne grundlegendes Wissen die braunen Parolen der Demagogen nachplappern, wenn …

Die Straße kann überall sein: hier im Internet, auf der Straße zwischen Häuserschluchten oder schützend vor Unterkünften von Geflüchteten, im Wohnzimmer oder in der Kneipe, in der Kirche, beim Konzert. Finden wir uns zusammen für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - Liberté, Egalité, Fraternité.

JE SUIS PARIS – JE SUIS CHARLIE

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