Querdenker und die gestohlene Revolution

Leipzig Trotz Bedenken genehmigt das Oberverwaltungsgericht Bautzen eine Demonstration von Corona-Leugnern, für die Neonazis den Leipziger Ring freikämpfen

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Mit diesen Ereignissen aus den frühen Abendstunden haben die nadelgestreiften Herren um die Querdenkertruppe aus Stuttgart das Attribut „friedlich“ auf den brennenden Asphalt gespuckt
Mit diesen Ereignissen aus den frühen Abendstunden haben die nadelgestreiften Herren um die Querdenkertruppe aus Stuttgart das Attribut „friedlich“ auf den brennenden Asphalt gespuckt

Foto: Omer Messinger/Getty Images

7. November: ein sehr schwarzer Novembertag bei strahlendem Sonnenschein. Dieser Tag hat bei mir ein sehr mulmiges Gefühl hinterlassen. Und auch Tage später muss ich meine Gedanken sortieren. Dazu gehört die bizarre Schlusseinstellung, die ich am Ende meines „Demo-Tages“ gegen 17 Uhr erlebte. Auf dem Rückweg laufen und fahren Menschen nebeneinander, überholen sich oder stehen gemeinsam an der roten Ampel, obwohl sie sich gerade noch feindlich gegenüberstanden.

1. Akt

„,Querdenken‘ ist eine friedliche, überparteiliche Bewegung, regional eigenständig untergliedert und aktiv. Wir sind eine Bürgerbewegung die sich durch alle gesellschaftliche Schichten zieht“, antworten die Verantwortlichen der Demonstration von Leipzig dem Mitteldeutschen Rundfunk auf dessen Anfrage, warum sich das Bündnis von „NPD & Co.“ unterstützen lasse.1

In diese Darstellung der Querdenker passen aber nicht die Bilder des Tages von Reichflaggen schwenkenden Demonstrationsteilnehmern in auffällig martialischem Outfit,2 mit Machogesten, den tätowierten Stiernacken zeigend und mit Hitlergruß vor Polizisten, sich warmlaufend am sprichwörtlich rechten Rand der Querdenker-Demo auf dem Augustusplatz. Stärke zeigen gegenüber den Teilnehmenden von „Leipzig nimmt Platz“ zwischen alter Post und Radisson Hotel. Da flogen nicht nur Worte hin und her. Aus den Reihen der Kameraden suchten Flaschen ihr Ziel in den Reihen der Gegendemonstranten. Die Hooligans und Neonazis wurden teils von den uniformierten Ordnungshütern übersehen oder deeskalierend auf Abstand gehalten.

Wem wollte man es verdenken, dass die strammen Herren maskengedämpft mit „Es gibt kein Platz für Nazi-Propaganda“ … begrüßt wurden. Extra dafür wurde die funkige Begleitmusik der bunten Gegendemo „Leipzig nimmt Platz“ vom weißen LKW runtergefahren. Öfter hoben sich die ausgestreckten Mittelfinger in Richtung der weißen Herren aus dem ultrarechten Milieu. Es waren an diesem Standort die einzigen Attacken gegen Rechts. Die gut gekennzeichneten Ordner von „Leipzig nimmt Platz“ sorgten zusammen mit den Polizisten*innen sowohl unter den eigenen Leuten als auch bei den Fremdgängern dafür, dass Maske getragen und Abstand gehalten wurde.

Nach drei Stunden wurde die Querdenker-Veranstaltung aufgelöst. Viel zu spät! Bei „Leipzig nimmt Platz“ wurde gejubelt und getanzt.

Jedoch kippte die Freude über die Entscheidung der Versammlungsbehörde der Stadt Leipzig. Die Uniformierten setzten Helme auf und stellten ihre Mannschaftswagen enger. Gegen halb fünf wurden in der Querstraße erste Feuerwerkskörper zielgerichtet gegen die Polizei von der kampfbereiten rechten Phalanx abgefeuert. Es schien so, als ob die Kampftruppe über die Querstraße in den Rücken der Demo „Leipzig nimmt Platz“ einfallen wollte. Dieses Scharmützel konnte noch unterbunden werden.

Was dann folgte entzog sich meinem Handyobjektiv, wurde jedoch durch Journalistinnen und Journalisten verschiedener Medien in Bild und Ton festgehalten. Ein eindrucksvolles Video wurde vom Jüdischen Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus3 ins Netz gestellt. Der Sächsische Innenminister Roland Wöller hätte angesichts dieser Bilder nicht von einem „überwiegend friedlichen Verlauf der Demonstration“ bei der Pressekonferenz am Sonntag sprechen dürfen. Er sollte mit seinen Beamten, die vor Ort in der ersten Reihe standen sowie den vielen Journalistinnen und Journalisten, die angegriffen wurden, unbedingt reden. Vielleicht ergeben sich dann andere Vorstellungen davon, was friedlich ist.4 5

Die Rechten fungierten als Sturmabteilung von Querdenken. Sie schlugen den Weg frei für die nachtrottenden Jünger einer Welt ohne Corona-Pandemie im Würgegriff der „Merkel-Diktatur“. Der Leipziger Ring wurde unter dem Motto „Frieden, Freiheit, keine Diktatur“ erobert. In der ersten Reihe waren keine Kinder oder Rentner zu sehen, die mit Leuchtraketen und Fäusten die Polizei und Medienvertreterinnen und -vertreter attackierten.6 Die Staatsmacht musste der brutalen Gewalt weichen. Sie machte den Weg frei – auf den symbolträchtigen Ring der „Friedlichen Revolution“.

Mit diesen Ereignissen aus den frühen Abendstunden haben die nadelgestreiften Herren um die Querdenkertruppe aus Stuttgart das Attribut „friedlich“ auf den brennenden Asphalt gespuckt.

2. Akt

Das, was ich auch auf der Seite der Querdenker-Demonstranten gesehen habe, war ein Bündnis von Menschen aller gesellschaftlicher Schichten: Rastalocken, Batik- und Jack-Wolfskin-Kleidung, Kleinstkinder im Wickelumschlag, seriös wirkende Anstandsbürger aller Couleur. Der ehemalige Pfarrer der Thomaskirche Leipzig fand für das Gemisch treffende Wort: „Noch nie in meinem Leben habe ich auf engem Raum so viele durchgeknallte, esoterisch verklärte, anarchisch-egoistische Menschen gesehen wie heute auf dem Augustusplatz in Leipzig.“7

Viele von ihnen, besonders die Bürgerinnen und Bürger aus der Risikogruppe 60+ (nach Darstellung von Jens Spahn8) mischten sich grinsend ohne Mundschutz in ihrer Altersarroganz zwischen die Gegendemonstranten von „Leipzig nimmt Platz“. Teilweise wurden sie mit einem beherzten Griff am Oberarm durch freundliche Polizeibeamte auf die andere Seite zum Querdenker-Superspreader-Event abgeschoben.

Der Ärger bei den älteren Herrschaften war so groß, dass man sich dazu hinreißen ließ, den Demonstranten von „Leipzig nimmt Platz“ einen Kopfschuss anzubieten. Was haben diese Menschen für einen Frust auf ihre alten Tage, dass sie sich zu solchen Äußerungen hinreißen lassen? Woran fehlte es den gut gekleideten Rentnern, die weder unter den Besuchseinschränkungen im Pflegeheim noch unter Berufsverboten oder Kurzarbeit aufgrund der Corona-Pandemie zu leiden haben? Hat der letzte Urlaub auf Mallorca oder in der Türkei nicht für ausreichend Entspannung gesorgt?

Auf wen, wenn nicht auf die Alten und Weisen, soll die Jugend denn eine lebenswerte Zukunft aufbauen? Vor diesen Menschen reiferen Alters darf man einfach keinen Respekt mehr haben. Sie haben sich entgegen aller Selbsterkenntnis aus den Löchern der eigenen Unzufriedenheit über die Belanglosigkeit ihres Lebens den Rattenfängern von Querdenken aus Stuttgart ergeben.

3. Akt

Die Querdenker stellten am 7. November in Leipzig eine perfekte Choreografie zusammen: wirkliche Probleme in der Gesellschaft, Faktenverdrehungen, Meditationen, gut verpackte antisemitische und ausländerfeindliche Hetztiraden, Leugnung der Covid-19-Pandemie und Klagen über die Verletzung der individuellen Grundrechte. Die scheinbar friedliche Massenhysterie unter Trumpfahnen, Reichsflaggen, Plakaten mit den „üblichen Verdächtigen“, die schuldig sind am Elend des Einzelnen und einer Vielzahl von kleinen und großen Tafeln wurde zum Höhepunkt getrieben, als die Versammlung aufgelöst wurde. „Wir verlassen jetzt einfach mal die Bühne und sehen, was passiert. Bleibt friedlich“, so wurden die Massen noch süffisant angeheizt. Hier hatte man endlich die Suppe am Kochen, die man angerührt hatte. Jetzt war das Signal gegeben, sich nicht seinem Schicksal der Auflösung der Veranstaltung hinzugeben. Es war Zeit für die Wiederholung der friedlichen Revolution von 89 auf dem Leipziger Ring.

Wir kennen das Ergebnis. Alle nachfolgenden, teils hysterischen Bilder von Augenzeugen der Geschehnisse von 1989 sind angesichts der Gewalt ein einziger Hohn gegenüber den ehrlichen Menschen, die damals ohne Gewalt einen friedlichen Aufstand für mehr Demokratie und Freiheit durch ihren Marsch auf dem Leipziger Ring wagten.

Am 9. Oktober 1989 ging es wirklich um verletzte Grundrechte und Einschränkungen. Es gab keine Pandemie, die unabhängig von den politischen Einstellungen ein Höchstmaß an Solidarität von Jeder und Jedem über alle Schichten der Gesellschaft hinweg abverlangt.

Wer heute sein Demonstrationsrecht wahrnimmt und sich an die auferlegten Regeln hält, braucht keine grünen Mannschaftswagen und Knüppelgarden mehr zu fürchten. Wer aber wissentlich, und so viel Intelligenz spreche ich den meisten Teilnehmenden an der Querdenker-Demonstration zu, gegen die Auflagen von Abstandhalten und Tragen von Mund-Nasen-Schutz verstößt, nimmt die Gefährdung des Lebens Anderer vorsätzlich in Kauf. Er darf sich dann nicht wundern, wenn eine Versammlungsbehörde dem Treiben schließlich ein Ende gesetzt hat. Viel zu spät!

Dass trotzdem der Ring durch die rechte Sturmabteilung der Querdenker mit Gewalt erobert wurde und Massen die Wiege der Wiedervereinigung besudeln durften, zeigt den puren Egoismus dieser Mitläufer.

Und wenn darunter Menschen waren, denen wir unsere Kinder in Kindertagesstätten anvertrauen, wie im dokumentierten Fall einer Erzieherin aus Halle9 und einer sich selbstdarstellenden Erzieherin aus Markkleeberg10, ist das höchst bedenklich. Es zeugt von einer lebensbedrohlichen Einstellung und Ignoranz dem Leben der anderen gegenüber. Ich möchte mir nicht ausmalen, wie viele Bürgerinnen und Bürger am 7. November 2020 bei den Querdenkern mitgelaufen sind, die in verantwortungsvollen Berufen arbeiten, sich um das Leben anderer Menschen kümmern müssen. Ob Kitaerzieher*innen, Lehrer*innen, Krankenpfleger*innen, Ärzt*innen, Polizeibeamt*innen, Rechtsanwält*innen, Richter*innen …

Finale

Wo waren die Leipziger*innen, die 89 mutig auf die Straße gegangen waren? Wo waren die Leipziger*innen, die jährlich zum Lichterfest pilgern und den Machtwechsel feiern? Zwischen Post und Radisson habe ich am Samstag fast ausschließlich deren Kinder und Enkel gesehen. Es bleibt also wieder nur, im Anschluss von Leipzig 0711, wie von Berlin und Stuttgart meinen Unmut zu bekunden, wie unsolidarisch und egoistisch diese bundesrepublikanische Gesellschaft ist. Welche Spaltung die Menschen im Angesicht einer weltweiten Pandemie zulassen und den Heilsbringern wie dumpfe Schafe hinterhertrotten. Jeder für sich mit seinen eigenen individuellen Ansprüchen an Haus, Hof und Garten, aber nur nicht für den anderen.

„Dass die Pandemie-Situation und die damit einhergehenden zeitweisen Grundrechtseinschränkungen Sorgen und Ängste hervorrufen, ist nachvollziehbar. DDR-Vergleichen und Behauptungen, es würden heute diktaturähnliche Zustände herrschen, muss ich allerdings entschieden widersprechen. Diese Bezugnahmen stützen und befeuern eine Erzählung, die in den letzten Jahren von PEGIDA, AfD und anderen rechten Gruppen kultiviert wurde. Den Ostdeutschen wird darin die Rolle der widerständigen Umstürzler zugeschrieben, die es 1989 geschafft hätten, ein System aus den Angeln zu heben, und die das heute wieder tun sollten. Das ist eine fatale, letztendlich demokratiefeindliche Perspektive“, äußert sich Christina Schwarz vom Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig in einem Interview zu Corona-Bevormundung.11

Leipzig hat es verpasst, den Gedanken von 89 zu bewahren und zu schützen!

Quellen:

Weitere Gedanken zum Thema Covid-19 habe ich auf meinem Blog https://www.leuchtturmleuchten veröffentlicht. Es ist der 7. Beitrag in einer losen Reihe, seitdem die Pandemie den westlichen Horiziont überflutete.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.

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