#wirsindmehr – sind wir das?

Chemnitz bleibt bunt Wird Chemnitz zum Aufmarschgebiet der rechten Intoleranz? Ist Mitlaufen gleich Mitmarschieren? Gibt es eine humanistische Mehrheit?

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Ein wunderbares und wichtiges Konzert in Chemnitz am 3. September 2017. Ich war nicht live dabei. Ich war traurig darüber. Ich zähle mich zu denen, die posten, wenn es um Gerechtigkeit und Gleichbehandlung in der Gesellschaft geht. Und deshalb war ich dabei. Beim Livestream von Spiegel Online (Danke an das Team von @spiegelonline für die Möglichkeit, live dabei zu sein).

Was wird erreicht, wenn wohl mehrere zehntausend – der mdr spricht auf seiner Internetseite von 65.000 Teilnehmern https://www.mdr.de/sachsen/chemnitz/chemnitz-stollberg/ticker-montag-chemnitz-konzert-100.html – begeistert vor der Bühne auf und ab hüpfen, textsicher die Lieder der Bands mitsingen, „Alerta Alerta Antifascista“ rufen?

„Wir sind nicht naiv und geben uns der Illusion hin, dass man ein Konzert macht und damit die Welt gerettet hat und alle Probleme gelöst sind. Aber manchmal ist es wichtig und notwendig, dass man sich nicht so allein fühlt“, sagt Felix Brummer, Leadsänger der Chemnitzer Band „Kraftklub“ bei der Pressekonferenz vor dem Konzert.

Darum geht es. Eine Mehrheit auf die Beine zu bringen, die all jenen Mut macht, die noch in ihren Zimmern sitzen. Sich anschließen, um für eine ehrliche Demokratie einzutreten.

In Chemnitz haben nach der tödlichen Messerattacke am 26. August 2018 erste spontane Demonstrationen mit Rufen „Holen wir unser Land zurück“ begonnen. Weil zwei ausländische Bürger unter dringendem Tatverdacht stehen. Das nutzen Rechte, AFD, Pegida und besorgte Bürger, um in Chemnitz in der darauffolgenden Woche eine Welle der Hetze, Gewalt und des Hasses zu schüren. Gegen jeden, der sich ihnen in den Weg stellt: Polizisten, Gegendemonstranten, Journalisten … Mit Hitlergruß und Alte-Oma-Geschwätz von der Vereinnahmung deutscher Kirchen durch den Islam. Die Welt sah einem machtlosen Staat zu. Musste mit ansehen, wie ein deutscher Heimatmuseumsminister sich in die hinterste Ecke seines bayrischen Wäldchens verkroch, bevor er wieder nur wirres Zeug palaverte.

Ja, es war durch die Rechten ein Ausloten von Grenzen des Machbaren. Reportagen und Bücher über rechte Szene sowie gefundene Waffenlager reichen als Beleg dafür, dass die Demokratie in Gefahr ist. Das inkonsequente Handeln des Staates und der demokratischen Bürgerschaft gegen die Ausschreitung in Chemnitz, haben dem Extremismus gestärkt. Es kann unter der Reichsflagge, dem AFD-Banner und mit ausgestrecktem Arm weitergehen. Heute erobern wir Chemnitz und morgen die ganze Bundesrepublik. Mehr will ich mir in der gesamten Europäischen Gemengelange gar nicht ausmalen.

Man hat den Todesfall von Chemnitz und später dann auch von Köthen als Chance genutzt, die Städte zu Aufmarschgebieten der Rechten und Besorgten Bürger zu missbrauchen. Seiner Systemwut Ausdruck zu verleihen. Mal richtig Dampf gegen den Staat und die ganzen „linksgrünversiften Gutmenschen“ ablassen. Mit der Grenzöffnung für Geflüchtete 2015 geht es dem Bürger besonders im Osten gefühlt immer schlechter. Aber, insgesamt jammern wir im Osten auf einem sehr hohen Niveau. Das kommt von mangelnden Vergleichen. Der neidvolle Blick geht nur in Richtung Westen.

Den Osten kränkt das Rumhacken auf der „so diktatorischen Vergangenheit“. Dadurch werden Lebensbiografien in den Dreck gezogen. Die Alten geben ihren Frust an die Kinder und die wiederum an ihre Kinder weiter. So baut sich eine Frustspirale auf, die von höherer Arbeitslosigkeit, Hartz IV, niedrigeren Löhnen, Infrastrukturproblemen, niedrigere Renten, Altersarmut ... begleitet werden. Und diese Zweitklassigkeit in ein und demselben Land birgt Sprengstoff in sich, der sich an vermeintlich „Schwächeren“ entlädt. Aber, manche Regionen im Westen, z.B. im Ruhrpott sind mittlerweile gebeutelter und dort sucht man sich andere Ventile. Dazu noch die größtenteils berechtigte Schelte auf die Lethargie der Ostdeutschen durch Medien. Es ist ein Mix aus Vielem. Aber, dieser Ursachenmix berechtigt nicht zu physischer und psychischer Gewalt. NEIN.

Der Anfang gegen diese Auswüchse muss beharrlich bei den Kindern, die der rechten und anderer extremistischer Gehirnwäsche ausgesetzt sind, gemacht werden. Bildung, Bildung, Bildung. Geschichtsbewusstsein fördern, ohne Dogmatismus und verherrlichende Vergleiche zwischen unterschiedlichen Gesellschaftssystemen.

Es geht um friedliche Konfliktbewältigung, die in erster Linie damit anfängt, dass auch das hohlste Gehirn eine Wertigkeit in und für die Gesellschaft erfährt. Hier und heute.

Das Konzert hat einen wichtigen Beitrag dazu geleistet. Musik und Mitsingen sollen bekanntlich die Synapsen im Gehirn verbinden. Kluge, denkende Menschen mit unterschiedlichen und individuellen Ansichten über ihre persönliche Zukunft waren vereint für ein Leben ohne Hass, Gewalt und Hetze.

#wirsindmehr ist hoffentlich ein Anfang wie #wetoo, #neinzurafd, #grib, #seawatch, #lifeline oder #meetoo sowie #marchforourlives … Eine kleine Auswahl von Bewegungen, die im Netz groß geworden sind und viel Mut transportiert haben. Danke, an die engagierten Bürger, dass sie immer live dabei sind, der Demokratie eine Stimme geben und für jeden hier im Land eine Plattform zum mitbestimmen darstellen – ob direkt durch Handeln oder einen Post oder ein solidarisches Ändern des Profilbildes. Somit können wir mehr sein.

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