30. Januar 1933: Das war keine Machtergreifung

Meinung Am 30. Januar jährt sich der Beginn der NS-Diktatur zum 90. Mal. Bis heute hält sich der Mythos von der „Machtergreifung“ der Nazis. Doch die Macht wurde Hitler ausgehändigt – von den konservativen Eliten Deutschlands
Reichspräsident Paul von Hindenburg ernannte Adolf Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler
Reichspräsident Paul von Hindenburg ernannte Adolf Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler

Foto: Imago Images/United Archives International

Zu den Lebenslügen des deutschen Bürgertums zählt, dass die Weimarer Republik zwischen Nazis und Kommunisten aufgerieben wurde. Daher die Rede von der „Machtergreifung“ in Bezug auf die Ereignisse vom 30. Januar 1933 – also die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler durch Reichspräsident Paul von Hindenburg. Doch der Begriff suggeriert einen Gewaltakt, einen Staatsstreich. Dem war nicht so. Das Sicherheitsschloss der Demokratie musste von den Nazis nicht aufgebrochen werden – es war längst zerbrochen und die Tür zur Macht weit aufgestoßen worden. Es war keine Machtergreifung, es war eine Machtübergabe der konservativen Eliten an die Nazis.

Denn das Entscheidende jenes Tages war, dass die NSDAP Teil einer Rechtskoalition wurde, zu der auch die Deutschnationalen unter Alfred Hugenberg, der Stahlhelm unter Franz Seldte und Hitlers Amtsvorgänger Franz von Papen, der 1932 aus dem Zentrum ausgetreten war, um seine Minderheitsregierung durch die NSDAP tolerieren zu lassen, gehörten – eine rechtsextreme Einheitsfront.

Kein Widerspruch gegen die Diktatur

Berühmt wurde Papens Ausspruch, binnen weniger Wochen habe man Hitler innerhalb der Koalition „an die Wand gedrückt, dass er quiekt“. Auch das vermittelt einen falschen Eindruck. Papen und Hindenburg hatten nicht vor, Hitler zu mäßigen, um Demokratie und Rechtsstaat zu schützen. Gleich in der ersten Kabinettssitzung waren sich Papen und Hitler einig, dass eine Rückkehr zum Parlamentarismus ausgeschlossen werden müsse. Dem folgenden, sehr raschen Übergang zur Diktatur widersprach niemand in der Koalition. Als Hitler am 28. Februar – nicht einmal einen Monat nach seiner Ernennung und einen Tag nach dem Reichstagsbrand – Hindenburg um die Unterzeichnung der „Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat“ bat, hatte dieser keinerlei Bedenken. Damit waren alle Grund- und Freiheitsrechte sowie rechtsstaatliche Prinzipien außer Kraft gesetzt; der Terror, den die SA in den vorangegangenen Wochen eskaliert hatte, wurde legal.

Ob Polizei, Ministerien, Rundfunkanstalten, Gerichte – in Windeseile brachte die neue Regierung die Gesellschaft auf Linie. Wer als unzuverlässig galt, wurde ohne Rücksicht auf Gesetz und Verfassung ausgetauscht oder gleich verhaftet. Widerstand gab es von bürgerlicher Seite kaum. Am 21. März, als der am 6. März neu gewählte Reichstag – bei dem die NSDAP und ihre Bündnispartner zusammen mehr als 50 Prozent der Stimmen erhielten – eröffnet wurde, konnte die ganze Welt sehen, dass es weder im konservativ-bürgerlichen, noch im reaktionär-aristokratischen Milieu nennenswerte Ambitionen gab, sich gegen Hitler zu stellen. Der „Tag von Potsdam“ wurde eine Inszenierung der neuen Herrschaft und eine Machtdemonstration. Auch der ehemalige Kronprinz Wilhelm von Preußen war da – im Hintergrund, aber gut sichtbar. Nur Kurt von Schleicher, Hitlers direkter Amtsvorgänger, hegte Putschpläne. Die Nazis ermordeten ihn 1934.

Doch die Zerschlagung der Demokratie begann nicht am 30. Januar. Denn ja, einen Staatsstreich hatte es gegeben – fast ein halbes Jahr zuvor. Per Notverordnung hatte Hindenburg im Juli 1932 die SPD-Regierung in Preußen abgesetzt und den wichtigsten Gliedstaat Kanzler Papen unterstellt. Dieses Ereignis hat der Republik mehr Schaden zugefügt als jeder Aufmarsch der KPD.

Der Adel und große Teile des konservativen Bürgertums hatten die Demokratie immer gehasst. Ihre Ablehnung der Nazis speiste sich vielmehr aus Standesdünkel und Sorge vor allzu antikapitalistischen Tönen aus den Reihen der NSDAP. Doch der gemeinsame Feind einte sie: Kommunisten, Sozialdemokraten, Juden.

Opfer zu Tätern

Von einer Machtergreifung muss sprechen, wer – bis heute – den Faschismus für ein Randphänomen hält. Doch das war er nie. Die Wähler der NSDAP waren im Durchschnitt protestantische Männer der Mittelschicht. Die Lüge von der Erosion der Demokratie durch extreme Ränder, muss erzählen, wer – bis heute – eine Äquivalenz von Links- und Rechtsextremismus herstellen will. Die KPD war eine stalinistische Partei und hat viele historische Fehler gemacht – wie die Ablehnung einer Zusammenarbeit mit der SPD oder die Kooperation mit der NSDAP beim BVG-Streik 1932. Doch die Kommunisten waren die einzigen, die den Nazis etwas entgegenzusetzen hatten. Nirgendwo waren SA-Aufmärsche gefährlicher als in Arbeitervierteln. Den Kommunisten eine Mitschuld am Aufstieg des Faschismus zu geben, heißt, aus Opfern Täter zu machen – Schuldabwehr einer nach 1945 mit dem Wiederaufbau betrauten konservativen Elite, die freudig ehemaligen Nazis Ämter übertrug und die KPD verbieten ließ.

Es geht nicht nur darum, sprachpolitisch historische Gerechtigkeit herzustellen. Es geht um tatsächliche Lehren aus der Geschichte. Denn wie die Politikwissenschaftler Steven Levitsky und Daniel Ziblatt 2018 in ihrem Buch Wie Demokratien sterben feststellten, ist das Entstehen einer demokratiefeindlichen Bewegung noch kein hinreichendes Ereignis für die Erosion eines demokratischen Staates. Erfolg haben diese immer erst dann, wenn sie Verbündete aus den etablierten Eliten finden. Das Paradebeispiel der Autoren? Der 30. Januar 1933.

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Geschrieben von

Leander F. Badura

Redakteur Kultur (Freier Mitarbeiter)

Leander F. Badura kam 2017 als Praktikant im Rahmen seines Studiums der Angewandten Politikwissenschaft in Freiburg und Aix-en-Provence zum Freitag, wo er bis 2019 blieb. Nach einem Studium der Lateinamerikastudien in Berlin und in den letzten Zügen des Studiums der Europäischen Literaturen übernahm er 2022 im Kultur-Ressort die Verantwortung für alle Themen rund ums Theater. Des Weiteren beschäftigt er sich mit Literatur, Theorie, Antisemitismus und Lateinamerika. Er schreibt außerdem regelmäßig für die Jungle World.

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