Ausgerechnet fis-Moll, diese Tonart gewordene Wehklage, steht im Mittelpunkt des Abends. Genauer: die Tonfolge fis – gis – a – cis – d. Eine winzige Melodie, die, man glaubt es kaum, Musikgeschichte geschrieben hat. Denn die mexikanische Komponistin Consuelo Velázquez hat daraus, nach d-Moll transponiert, eines der bekanntesten Lieder der Welt komponiert: Bésame mucho, ein melancholischer Bolero, dessen Text von Sehnsucht, Liebe und Schmerz kündet. Ungezählte Male gecovert und in Filmen verwendet, ist die eingängige Melodie bis heute ein unschlagbarer Ohrwurm.
Das Lied machte aus der hochbegabten Pianistin im Handumdrehen eine der ersten Frauen, die in der mexikanischen Schlagerwelt der 1940er Fuß fassen konnte. Der Radiosender XEQ hatte
diosender XEQ hatte sie als Konzertpianistin engagiert, doch durfte sie bald auch eigene Kompositionen vorstellen. Wann genau Bésame mucho entstand, darüber gibt es variierende Angaben. Velázquez, 1916 geboren, soll in einem Interview gesagt haben, dass sie 19 war, als sie das Lied schrieb – und noch nie geküsst hatte. Bésame mucho wurde ab 1941 ein Welterfolg. Wahrscheinlich auch, weil der Text – Küsse mich, küss mich ganz feste, denn ich hab Angst, ich verlier dich, verlier dich danach – gut zu den zahlreichen Trennungen passte, die der Krieg verursachte.So nieder, so hoch, so schönDabei war es gerade ihre klassische Ausbildung, die sie mit der charakteristischen Melodie in Verbindung brachte. Denn diese stammt aus einer Klaviersuite des spanisch-katalanischen Komponisten Enrique Granados. Genauer: aus dem Stück Quejas, o la Maja y el Ruiseñor aus Granados’ Piano-Suite Goyescas. Inspiriert von Bildern Francisco de Goyas hatte der Musiker 1911 die Suite und 1915 eine gleichnamige Oper komponiert. Weil deren Uraufführung in Paris aufgrund des Ersten Weltkrieges abgesagt wurde, fand sie 1916 am Metropolitan Opera House in New York statt – und wurde ein großer Erfolg. Die New York Times berichtete von „ecstatic applause“ für die „brilliantly exotic little opera“. Granados war auf dem Höhepunkt seiner Karriere angekommen – die kurz darauf ein jähes Ende nahm: Auf der Rückreise wurde die Fähre Sussex, mit der er und seine Frau Amparo den Ärmelkanal überquerten, von einem deutschen U-Boot torpediert. Beide gehörten zu den etwa 50 Todesopfern.Genau in jenem Jahr, in dem Granados starb, kam also Velázquez auf die Welt, und aus diesen Berührungspunkten hat die Neuköllner Oper in Berlin einen eineinhalbstündigen Musiktheater-Abend gemacht. Auf engstem Raum vor kleinem Publikum bieten vier Musiker:innen und Darsteller:innen anspruchsvolle Klaviermusik und komplexe Oper auf der einen Seite und herzerweichende, eingängige Schnulzen auf der anderen.Dabei erzählen sie, wie nebenbei, die Lebensgeschichte der beiden so ungleichen Komponist:innen. Nebenbei, weil die Hauptrolle hier eindeutig die Musik spielt, was dadurch treffend sichtbar wird, dass ein Steinway-Flügel fast den gesamten Bühnenraum einnimmt und im Laufe des Spiels lediglich ein wenig gedreht und geschoben wird. Dazu kommt, dass den Darsteller:innen zwar einerseits Rollen zugeordnet sind – der Tenor Christian Camino mimt gelungen tragikomisch Enrique Granados, die Sopranistin Ana Schwedhelm mit nahezu raumsprengender Stimmkraft Consuelo Velázquez –, beide wachsen über diese zugunsten der Musik aber immer wieder hinaus. So können Granados und Velázquez wunderbar ahistorisch zwei Duette aus seiner Oper singen.In einem Schlüsselmoment sitzt die Pianistin Danai Vritsiou am Flügel und spielt La Maja y el Ruiseñor. Schwedhelm/Velázquez setzt sich dazu und als die charakteristische Melodie erklingt, übernimmt der Bolero, der schließlich aus den Lautsprechern mit Coverversionen überblendet wird. So entsteht ein wundersames musikalisches Palimpsest, das die Schönheit künstlerischer Aneignung demonstriert und die Unterscheidung von Hoch- und Populärkultur ins Schunkeln bringt.So reizvoll und mutig es ist, einen musikgeschichtlichen Zufall, der narratologisch gesehen nicht mehr als ein Punkt ist, auf die Linie eines Musiktheaterabends zu dehnen, so wacklig ist die Parallelisierung der Leben von Granados und Velázquez. In einem „bis ins Unendliche ausgedehnten Moment der Krise“, wie das Programmheft freimütig zugibt, sieht man den beiden beim Leiden in einem „existenziellen Zwischenzustand“ zu. Velázquez wurde von ihrem Mann betrogen und verlassen – eine Erfahrung, die sie niederschmettert und ihre Schaffenskraft bedroht. Freilich ist das bitter, aber doch etwas anderes als der Tod in den eisigen Fluten des Ärmelkanals, den Granados hier gleichzeitig erleiden muss.Zwar wird klar, dass hier die Prinzipien der so unterschiedlichen Musikstücke auf den Begriff gebracht werden sollen – Eros und Thanatos als widerstreitende, aber unvermeidlich verwobene Prinzipien. Doch die Möglichkeit, sich wie Velázquez durch das Lied Que seas feliz (Sei glücklich) ins Leben zurück zu kämpfen, die hat Granados auf dem Grund des Meeres eben nicht.Placeholder infobox-1