Es bedarf schon etwas Aufmerksamkeit, um zu merken, dass in Marokko am 7. Oktober Wahlen stattfinden. Nur wenig Kampagne findet in den Straßen statt. Hier und da ein Flyer, der im Dreck liegt, zwei Männer, die Leute auf der Straße ansprechen, nicht viel mehr. Ohnehin beginnt der Wahlkampf erst zwei Wochen vor der Wahl, davor ist Wahlwerbung verboten, die Parteien haben nicht einmal ein Wahlprogramm. Dabei ist die Auswahl groß: ganze 18 Parteien sind im derzeitigen Parlament vertreten, das 2011 im Zuge des Arabischen Frühlings und nach der vom König durchgeführten Verfassungsreform zustande gekommen war. Die Reform hatte die Protestbewegung rasch beruhigt, der König hatte jedoch kaum Konzessionen gemacht. Seine Macht ist immer noch schier allumfassend, die Gewaltenteilung mangelhaft. So ist beispielsweise das Innenministerium nach wie vor direkt dem Palast untergeordnet. Auch wird nun zwar der Kandidat der stärksten Partei zum Regierungschef ernannt, der Mangel einer eigenen Parlamentsmehrheit schränkt ihn jedoch stark ein. So ist zwar seit 2011 Abdelilah Benkirane von der islamistischen PJD (Parti de Justice et Développement) Regierungschef, seine Koalition entbehrt jedoch jeder Homogenität.
König Mohammed VI. ist kein Freund Benkiranes. An der Macht seit dem Tod seines Vaters, des gefürchteten, diktatorisch regierenden Hassan II., 1999, ist er für viele die Inkarnation des modernen Marokkos – und somit auch dessen Demokratisierungsprozesses. Und tatsächlich hat er einiges für die Modernisierung und Öffnung des Landes getan. Liberalisierung in ausgewählten Bereichen, Förderung des Tourismus, Aufwertung der jahrzehntelang vernachlässigten Nordregionen (was ihm dort traumhafte Beliebtheitswerte verschafft), ein moderaterer Kurs in der Außenpolitik, der auch die Einhaltung internationaler Konventionen beinhalten soll – doch all das, ohne auch nur im geringsten den eigenen Status als Übervater der Nation und der Gläubigen in Frage zu stellen.
Dabei hat er einen Hauptfeind: Die Islamisten. Jeder Liberalisierung beispielsweise für Frauen entgegengestellt, und immer mehr in der Bevölkerung verankert, stellen sie das größte Ärgernis für den Palast da. Historisch jahrzehntelang mit allen Mitteln unterdrückt, gewannen sie 2011 die Parlamentswahl. Dabei kam ihnen zugute, dass die historischen politischen Blöcke Marokkos zersplittert und delegitimiert sind. Da wären auf der einen Seite die aus der Unabhängigkeitsbewegung hervorgegangen Parteien Istiqlal und USFP (Union Socialiste des Forces Populaires), sowie deren Abspaltungen, traditionell Gegner des Königs. Doch die Vorgänger an der Spitze des Staates, Mohammed V., Vater der Unabhängigkeit, und der bereits erwähnte Hassan II. haben stets eifrig darauf geachtet, den Einfluss dieser Parteien zu mindern, was das Land schließlich davor bewahrt hat, das Schicksal vieler postkolonialer Staaten zu erleiden, in denen übermächtige Staatsparteien, hervorgegangen aus dem Kampf um Unabhängigkeit, bis heute die Macht an sich klammern. Das Mittel der Wahl im Kampf gegen Istiqlal und Sozialisten waren die „administrativen Parteien“. Hervorgegangen aus einem Zusammenschluss unabhängiger königstreuer Kandidaten, wurden diese politischen Formationen stets im Umfeld des Königs gegründet und ihr politisches Programm entsprach in der Regel dem des Königs. So erklärte beispielsweise 1977 der unabhängige Kandidat Abdelkader Benslimane: „Mein Programm? Das ist ganz einfach der Hassanismus.“
So gelang es jahrzehntelang – unter Hassan II. begleitet durch brutale Repression und Militarisierung – das Parlament, wie den Rest des Landes, unter Kontrolle zu halten. Der Coup schien perfekt, als es Hassan II. 1997 gelang, die historischen Kräfte der Opposition, in den Staatsapparat einzubinden. Im Vorfeld hatte er Demokratisierungsbestrebungen angekündigt und die Einhaltung der Prinzipien des Rechtsstaates versprochen. Die Falle war perfekt. USFP und PI verloren jede Glaubwürdigkeit, sobald sie auf der Regierungsbank saßen. Mohammed VI. übernahm ein nahezu perfekt kontrolliertes Land. Bis die Islamisten immer stärker wurden.
Um deren Einfluss zurückzudrängen, erfolgte 2008 die Gründung der Partei „Auhenticité et Modernité“ (PAM). Dieser Zusammenschluss zersplitterter administrativer Parteien hat ein sozialliberales Programm, das in etwa dem Kurs des Königs entspricht, und das erklärte Ziel, die Wahlen am 7. Oktober zu gewinnen. Doch die Sorge vieler Beobachter ist groß, dass dies nur durch Einflussnahme des Staates möglich ist. Verschiedene Ereignisse deuten darauf hin, dass hinter den Kulissen so viele Hebel wie möglich bewegt werden, um einen Sieg der Islamisten zu verhindern. So fand beispielsweise zum Erstaunen der Öffentlichkeit am 18. eine Demonstration mit Tausenden Teilnehmern in Casablanca statt, die ein Ende der zunehmenden Islamisierung forderte und deren Teilnehmer „Vive le roi!“ skandierte. Darauf angesprochen leugnete Innenminister Mohamed Hassad jeden Einfluss seines Ressorts: „Wir wurden von der Demonstration heute überrascht. Sie müssen mir nicht glauben, aber so ist es“, erklärte er gegenüber dem regimekritischen Nachrichtenmagazin TelQuel. Doch selbst wenn der Innenminister recht hat, so schließt das einen Einfluss des Staatsapparates und von PAM-Funktionären nicht aus. Es ist schließlich genau dieses undurchsichtige Geflecht aus Intrigen und Korruption im Hintergrund, das den „tiefen Staat“ ausmacht.
Und Benkirane? Versucht, sich bei der Sache als Märtyrer der Freiheit und Demokratie hinzustellen, inklusive rückwirkender Vereinnahmung der Protestbewegungen vom Februar 2011 (denen gegenüber die Islamisten ursprünglich zurückhaltend eingestellt waren). So könnte der Schuss des Königs (wenn es denn einer ist) auch nach hinten losgehen und der PJD einen noch größeren Sieg bescheren.
Derweil bedauern Beobachter und andere Wahlteilnehmer, dass sich die Kampagne kaum um Programme, die Bilanz der Regierung, und die Zukunft des Landes dreht. Manche sehen düstere Zeiten aufziehen, in denen der Innenminister mit eiserner Hand das Land im Namen des Königs unterdrückt. Die Fédération de la Gauche Démocratique, einzige Partei, die sowohl dem König, als auch den Islamisten und der historischen Opposition entgegensteht und die ein modernes, liberales Programm vertritt, scheint viel mehr als einen Achtungserfolg nicht erhoffen können.
Wie dem auch sei, die meisten Marokkaner scheinen sich ohnehin kaum um die Wahlen zu kümmern. Die Wahlbeteiligung lag 2011 bei 46%, die Anzahl ungültiger Stimmen bei 22%. Wie die Wahl auch ausgeht, für die meisten Marokkaner gibt es nur einen Staat: König Mohammed VI., Oberhaupt der Gläubigen.
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