Postkoloniale Theorie schlägt in das um, was es vorgibt, zu bekämpfen: orientalistische Klischees. Mit dieser These sorgte der US-amerikanische Soziologe Vivek Chibber für Aufregung. Er tritt zudem für den Marxismus ein. Im Gespräch spricht er schnell und pointiert.
Der Freitag: Herr Chibber, Anspruch der postkolonialen Denker war es einst, unseren Blick auf die Geschichte des Kolonialismus zu vervollständigen. Weil die Geschichte der Länder, die früher Kolonien waren, unvollständig ist, wie sie von der sogenannten westlichen Historiographie erzählt wird. Was ist falsch an diesem Bestreben?
Vivek Chibber: Der Anspruch ist großartig, sie kamen damit nur reichlich spät. Es gibt seit mehr als einem Jahrhundert Intellektuelle, die versuchen, dieses Bild zu vervollständigen. Dazu kommt, dass die Art und Weise, wie sie versucht haben, das Bild zu vervollständigen, sehr irreführend war. Denn das Problem mit der Vorstellung von der kolonialen Welt ist nicht, dass sie von westlichen Historikern geschrieben wurde oder mit westlichen Kategorien. Das Problem ist, dass die dominanten Erzählungen von konservativen und prokolonialen Kräften geschrieben wurden. Das Korrektiv für die dominante Erzählung ist also nicht eines, das nicht-westlich sein muss, es muss einfach antikolonial sein. Und der Westen hat eine lange Tradition antikolonialer Ideologie und antikolonialer Wissenschaft.
Postkoloniale Denker würden darauf antworten, dass das Problem die westlichen epistemologischen Grundannahmen sind, also die Art und Weise, wie wir uns im Westen einen Zugang zur Realität um uns herum verschaffen und Erkenntnisse über dies Realität gewinnen.
Ja, und das ist grundlegend falsch. Denn was ist diese westliche epistemologische Grundannahme? Worin besteht der Unterschied zu einer östlichen epistemologischen Auffassung? Halten die Menschen im Osten nicht auch Fakten für wichtig? Glauben sie nicht, dass Menschen durch materielle Interessen motiviert sind? Sehen sich die Menschen im Osten nicht in der Lage, ihre Situation zu betrachten und rational und wissenschaftlich zu bewerten? Was ist dieses Ding, das westliche Epistemologie genannt wird? Es ist eine Fiktion, es gibt sie nicht.
Man könnte sagen, die ganze Epistemologie, die bis zur Aufklärung und sogar bis ins antike Griechenland zurückreicht.
Vieles, was in den Aufklärungsideen Europas postuliert wurde, war aus der islamischen Welt sowie aus Ost- und Südasien übernommen. Die Weltgeschichte seit der Aufklärung lässt sich nicht in westliche und östliche Konzepte einteilen. Diese Auffassung ist nicht nur falsch, sondern widerspricht genau der Vorstellung, von der die postkoloniale Theorie behauptet, inspiriert zu sein. Und zwar, dass der Osten eine lange und ruhmreiche Geschichte der intellektuellen Errungenschaften hat, die genau das beinhaltet, was mit der Aufklärung verbunden ist: wissenschaftliche Fortschritte, philosophische Leistungen, Logik. Zu glauben, dass Vernunft und Wissenschaft etwas sind, das nur dem Westen eigen ist, ist nicht nur falsch, es ist rassistisch.
Aber es ist wahr, dass die Ideen der Aufklärung von Kolonialisten genutzt wurden, um lokale Eigenheiten zu zerstören, oder? Und um die eroberten Teile der Welt zu beherrschen?
Ja, und die Ideen der Aufklärung wurden auch von den westlichen herrschenden Klassen verwendet, um ihr eigenes Volk zu erdrücken, und die Ideen der Aufklärung wurden auch von den Kolonialmarxisten genutzt, um gegen die imperiale Herrschaft zu kämpfen. Das sagt nichts aus.
Wie ich in Ihrem Buch lese, kommt die erste Generation der Forscher der Subaltern Studies, von einer marxistischeren Art der Sozialanalyse.
Ja. Die Anfangsphase ist eine, in der sie im Grunde genommen ein Ableger von etwas sind, das man Geschichte von unten nennen würde, inspiriert von Menschen wie Eric Hobsbawm, E. P. Thompson. Ihre Herkunft ist also, ja, eine marxistische. Doch sobald sie sich in eine neue, postkoloniale Theorie verwandeln, nehmen sie im Wesentlichen sowohl den epistemologischen als auch den konzeptionellen Rahmen des Poststrukturalismus an.
Aber auch der Poststrukturalismus ist zutiefst westlich.
Natürlich! Die ganze Sache ist ein Schwindel! Es ist idiotisch. Man liest diese Leute und sie sagen: Wir müssen westliche Konzepte in Frage stellen und an wen wenden sie sich? Indische Philosophen? Sie wenden sich an Heidegger! Sie wenden sich an Foucault! Das Ganze ist ein Witz.
Eine der grundlegenden Kritiken, die Sie in Ihrem Buch ausarbeiten, ist deren Missverständnis des Kapitalismus. Was meinen Sie damit?
Es gibt zwei Aspekte. Erstens missverstehen sie die Geschichte seiner Entstehung. Zweitens, was seine kausale Struktur ist. Ironischerweise, obwohl die postkoloniale Theorie mit ihrer Kritik nicht nur auf den Marxismus, sondern auch auf den Liberalismus zielt, wird ihre Vorstellung davon, woher der Kapitalismus kommt, vollständig aus dem Liberalismus des 19. Jahrhunderts übernommen. Da ist diese sehr heldenhafte Geschichte vom Aufstieg der Bourgeoisie und dem Zertrümmern des Feudalismus und vom Kampf für die Freiheiten, die wir heute liberale Rechte nennen. Das ist ein grundlegender Fehler. Die Bourgeoisie hat noch nie irgendwo auch nur einmal für liberale Rechte gekämpft. Sie hat nicht einmal wirtschaftlich gegen den Feudalismus gekämpft. Sie musste dazu gezwungen werden, an den antifeudalen Kämpfen teilzunehmen. Was die Marxisten fälschlicherweise bürgerliche Rechte nennen, sind Rechte, die überall von den Werktätigen gegen die Opposition der sogenannten liberalen Bourgeoisie erreicht wurden. Was die Kapitalisten einrichteten, als sie im 18. und 19. Jahrhundert eine politische Dominanz in Europa erreichten, waren bürgerliche Oligarchien, die sich darauf konzentrierten, den Werktätigen politische Freiheiten zu verweigern.
Und was hat das mit dem Kolonialismus zu tun?
Postkoloniale Theoretiker denken, dass, als der Kolonialismus in den Süden kam und koloniale Oligarchien gründete, die Bourgeoisie aus dem Westen, die dieses Projekt vorantrieb, es versäumte, den kolonialen Subjekten die Freiheiten zu gewähren, die sie ihrem eigenen Volk gewährte. So gab die westliche Bourgeoise ihre revolutionäre, antifeudale, antiabsolutistische Mission auf. Und das bedeutet, dass sich die Natur des bürgerlichen Projekts, nachdem es Europa verlassen hatte, grundlegend verändert hat. Während es in Europa ein befreiendes, emanzipatorisches, ein umfassendes Projekt für alle Menschen war, wurde es in den Kolonialreichen zu einem engen, restriktiven, oligarchischen Projekt. Was daran falsch ist, ist, dass es immer ein enges, oligarchisches Projekt war, überall. Was sie übersehen, ist, dass im Westen wie im Osten die Freiheiten von den Arbeitern erkämpft werden mussten. Es gibt keine Ost-West-Spaltung, wenn es um die Geschichte der Freiheit geht, es gibt eine Spaltung zwischen Herrschern und Beherrschten.
Und was hat es mit der Kausalstruktur auf sich?
Sie denken, wenn der Kapitalismus genuin ist, muss er einer sein, der alle Aspekte des gesellschaftlichen Lebens revolutioniert. So sehen sie im Westen, dass es eine tiefgreifende Transformation gab, nicht nur eine Veränderung in der Wirtschaft, sondern auch eine Veränderung im Staat, in den sozialen Beziehungen. Was sie also tun, ist, dass sie massiv überhöhen, wie viele dieser Veränderungen als Folge des Kapitalismus zustande kamen. Für sie ist der Westen dieser eine große kapitalistische homogene Block. Dann kontrastieren sie das mit dem Osten und sagen, dass der Kapitalismus gekommen ist, aber immer noch viele alte Religionen bestehen, alter Aberglauben, alte Rituale, Formen der Autorität, die früher im Feudalismus üblich waren. Warum hat die Bourgeoisie nicht alles revolutioniert? Das bedeutet, dass es kein echter Kapitalismus ist, es ist eine ganz andere Art von Modernität. Dabei wird wieder übersehen, dass es auch im Westen viele vormoderne Autoritätsformen, vormoderne Rituale, vormoderne Formen des politischen Bewusstseins gibt, die Jahrhunderte nach dem Aufstieg des Kapitalismus Bestand hatten. Es ist also eine sehr ahistorische Vorstellung davon, wie die kausale Struktur des Kapitalismus aussieht. Sobald man die tatsächliche Geschichte des Aufstiegs des Kapitalismus im Westen erfasst hat, sieht man, dass sie überall sehr vielfältig war. Das Einzige, was der Kapitalismus überall gleich hervorgebracht hat, ist, dass er die Produktion von Waren und Dienstleistungen und ihren Handel einer ganz bestimmten Logik unterwirft. Diese Logik hat sich faktisch vollständig auf den Osten ausgeweitet.
Gibt es also keine positiven Aspekte der postkolonialen Theorie?
Ich bin immer wieder überrascht von dieser Frage. Was dahinter steckt, ist der Wunsch, sie irgendwie zu retten. Und ich nehme an, dass das daran liegt, dass Menschen in ihren Dreißigern und Vierzigern nur mit der postkolonialen Theorie aufgewachsen sind und nie wirklich Erfahrungen mit sozialistischen oder marxistischen Ideen gemacht haben. Und ich bin wirklich versucht, einen Weg zu finden, sie zu retten. Aber ich würde lügen. Diese Theorie ist sehr rückständig, wissenschaftlich leer und ziemlich rassistisch.
Was tun also?
Ich denke, solange radikale Ideen an den Universitäten und in den Händen von Studenten und Journalisten gefangen sind, werden diese Ideen dominant bleiben. Aber wenn wieder Bewegungen in Gang kommen, wird dieses Zeug als eine außergewöhnliche Episode der kulturellen und moralischen Degeneration angesehen werden.
Sie sagen also, dass die Art und Weise, sie loszuwerden, keine akademische Kritik ist, sondern eine Massenbewegung, die ihnen das Gegenteil beweisen würde?
Nun, man muss die Kritik üben, deshalb habe ich das Buch geschrieben. Denn in intellektuellen Kreisen hat sie einen ziemlich großen Einfluss gehabt. Aber was ich glaube, ist, dass es nie in den Hintergrund treten wird, solange sich die Debatten auf Professoren und Journalisten beschränken, denn dies ist eine Klasse von Menschen, die kein materielles Interesse an der Entwicklung antikapitalistischer Ideen hat. Sie wird erst dann in den Hintergrund treten, wenn sich der Radikalismus im Leben und in den Kämpfen der Werktätigen neu herausbildet. Sobald das passiert, wird viel von diesem Zeug einfach verschwinden. Es geschieht bereits jetzt. Die intellektuelle Kultur ist heute ganz anders als damals, als ich das Buch geschrieben habe. Das ist erst sechs Jahre her. Und das liegt an der teilweisen, schwachen, aber sehr realen Wiederbelebung des Klassenkampfes.
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