Die Rückkehr der Verdammten dieser Erde

Frankreich Mit der Arbeitsrechtsreform hat die sozialistische Regierung etwas losgetreten: Massenstreiks und Demonstrationen geben dem zutiefst verunsicherten Land Hoffnung

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Vor allem Studenten gingen die Arbeitsrechtsreform auf die Straße
Vor allem Studenten gingen die Arbeitsrechtsreform auf die Straße

Foto: Ean-Francois Monier/AFP/Getty Images

Sich nicht alles gefallen lassen, sich gegen „die da oben“ erheben, zukunftsweisende Schritte gehen, die weltweit Schule machen – seit der Revolution 1789 ist dies Teil des kollektiven Gedächtnis der Französinnen und Franzosen. Und so überraschte es selten jemanden, wenn es zwischen Lille und Marseille, zwischen Rhein und Atlantikküste zu Massendemonstrationen kam, wenn Barrikaden errichtet wurden und Autos brannten. Diesseits des Rheins, wo man eine Fahrkarte kauft, um einen Bahnhof zu stürmen (Lenin), lächelte man stets nur müde. Umso erschütternder war es, in den letzten Jahren zu sehen, wie sich die Enttäuschten, Abgehängten und Wütenden Frankreichs in einfachen Erklärungen verfingen, alles auf „die Einwanderer“ schoben und in Scharen dem rechtsradikalen Front National zuliefen. Zwar gewann der linke Block 2012 die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, doch seither ist die Enttäuschung (natürlich) groß. Linke Kräfte haben die Regierung längst verlassen (teils freiwillig, teils durch Kabinettsumbildungen), mit Premierminister Manuel Valls sitzt ihr ein rechter Sozialdemokrat vor, der von Sozialismus nichts hören will und die Euphorie um die „Mariage pour tous“, die kurz nach Antritt der Regierung eingeführte Öffnung der Ehe, ist längst verflogen. Der damalige Widerstand zeigte einerseits, dass sich ein beunruhigend großer Teil der Jugend der politischen Rechten, wenn nicht sogar dem Rechtsradikalismus zuwandte. Die Gewerkschaften und die StudentInnen-Organisationen verhielten sich jedoch jahrelang relativ ruhig, beziehungsweise beschränkten sich auf konkrete Kämpfe vor Ort. Wer sollte es ihnen vergelten? Die großen Streiks der Arbeiterschaft wurden seit 1995 alle im Großen und Ganzen verloren, die Jugend ist viel zu sehr damit beschäftigt, nicht ins Prekariat abzurutschen – beziehungsweise in diesem zu überleben. Als Präsident Hollande nach dem 13. November eine Verfassungsänderung vorschlug (die inzwischen verworfen wurde, absurderweise dank der Konservativen), die so viel mit linker Politik zu tun hatte, wie Merkels Flüchtlingspolitik mit Menschlichkeit (nichts), regte sich erster Unmut, doch es brauchte einen Angriff auf ein linkes Kernthema, um letztendlich für Bewegung in der Kiste zu sorgen: das Arbeitsrecht. Eine Reform, die direkt aus der Feder der Arbeitgeberverbände zu entspringen scheint, spaltet nicht nur die regierenden Sozialisten, sondern treibt auch seit ein paar Wochen in der ganzen Republik Menschen auf die Straße. Endlich.

Generalstreik

In Deutschland verboten, ist der Generalstreik in anderen Ländern (zu Recht) ein völlig legitimes Mittel des Arbeitskampfes. So auch in Frankreich. Der 31. März war der bisherige Höhepunkt der Streik- und Demonstrationsbewegung. Den organisierenden Gewerkschaften CGT und FO zufolge nahmen etwa 1,3 Millionen Menschen landesweit daran teil. Auch wenn von offiziellen Stellen weit niedrigere Zahlen (390.000) gemeldet wurden, so ist die Nachricht angekommen: Die Arbeiter und Arbeiterinnen, die lohnabhängige Bevölkerung lässt sich diesen Ausverkauf ihrer Rechte nicht gefallen. Aufweichung des Kündigungsschutzes und der Abfindungszahlungen, noch mehr Befristung – niemand lässt sich hart erkämpfte Privilegien kampflos nehmen. Die Beschäftigten, die seit über 20 Jahren eine Niederlage nach der anderen hinnehmen müssen – traumatisch war beispielsweise die Schließung des Renault-Citroën-Werkes in Aulnay-sous-Bois 2014, die trotz massiven Streiks nicht verhindert werden konnte – machen sich zwar keine Illusionen darüber: „Täuschen Sie sich nicht, die Angestellten haben die schweren Konsequenzen des Arbeitsgesetzes verstanden. Aber sie haben kein Vertrauen mehr“ erklärt der Gewerkschaftler bei PSA (Peugeot Citroën) der Tageszeitung Libération. „Wir stehen mit dem Rücken zur Wand, aber wenn man angegriffen wird, muss man sich verteidigen“, fügte sein Kollege Philippe Evrard hinzu.

Die Schonfrist ist vorbei

Eine traditionell aufmüpfige Gruppe sind in Frankreich auch die StudentInnen und die SchülerInnen der Sekundarstufe. Zuletzt 2006 gegen Liberalisierungsbestrebungen der Sarkozy-Regierung auf der Straße, hielten sie sich bisher gegen den „Linken“ Francois Hollande zurück. Doch fast 25% Arbeitslosigkeit lasten auf den 15-24-jährigen. Und auch wer nach der Ausbildung Arbeit findet, schleppt sich oft jahrelang von einem befristeten Vertrag zum nächsten. Da ist das Gesetz „El Khomri“, benannt nach der Arbeitsministerin Myriam El Khomri, der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte und die Schonfrist für Hollande beendete. An Schulen und Universitäten wurden in den letzten Wochen Eingänge blockiert, Demonstrationszüge zogen durch die Städte und schlossen sich den streikenden Beschäftigten an. Dabei kam es zu gewaltsamen Übergriffen vonseiten der Polizei, die die Wut nur vergrößerten. „Ich will mich nicht mein ganzes Leben lang fragen, ob ich die Mittel habe, mir Fleisch oder Fisch zu kaufen“, erklärte eine Studentin der Universität Paris VIII gegenüber Libération. Ob konkret von der Prekarisierung betroffen oder aus Gründen des Prinzips, die Jugend will sich diesen Kahlschlag im Arbeitsrecht nicht gefallen lassen. Für die Regierung ist der Widerstand der jungen Französinnen und Franzosen besonders bitter, war diese Bevölkerungsgruppe doch von Präsident Hollande zur absoluten Priorität erhoben worden. Und tatsächlich sind einige Verbesserungen für die Jugend erreicht worden, doch für viele ist die Zukunft nach wie vor unsicher. Sie suchen den Kontakt zu den ArbeiterInnen ganz bewusst, da sie von deren Erfahrung profitieren und mit ihnen gemeinsam kämpfen wollen. „Convergence des luttes“ – Übereinstimmung der Kämpfe – ist das Zauberwort dieser Bewegungen.

„Nuit debout“

Nach dem 31. März sind einige der DemonstrantInnen nicht wieder nach Hause gegangen. Sie besetzten in Paris die Place de la République, wo noch immer viele Menschen den Toten vom letzten November gedenken. Während anfangs nur einige wenige die Nacht über blieben und am nächsten Morgen friedlich von der Polizei vertrieben wurden, ist daraus inzwischen eine landesweite, immer weiter wachsende Bewegung geworden. In vielen Städten harren nun Menschen trotz des in den letzten Tagen schlechten Wetters aus. „Nuit debout“ – Nacht im Stehen – zieht zwar vor allem junge Leute an, die nicht am nächsten Morgen um 5:30 in der Fabrik stehen müssen, doch in den basisdemokratisch organisierten Versammlungen hat man ein offenes Ohr für die Erfahrungen der französischen Arbeiterklasse. Auch hier will man die vielfältigen sozialen Kämpfe gegen das Gesetz El Khomri zusammenbringen. Filmvorführungen und Gespräche mit erfahrenen Gewerkschaftern, stundenlange Debatten und durchwachte Nächte lassen hier etwas entstehen, dass Hoffnung gibt: eine Bewegung, die fernab von Parteien und etablierten Gruppen das Bild einer Zukunft zeichnet, in der es mehr als die Wahl zwischen Konservativen und Sozialisten oder die Machtübernahme der Neofaschisten um Marine Le Pen gibt. Es geht um Hoffnung für eine Bevölkerung, der Selbstzweifel in die kollektive DNA geschrieben sind – aber eben auch die Rebellion. Die Regierung könnte etwas losgetreten haben, das größer wird als sie selbst. Im Mutterland der europäischen Revolutionen kämpfen sie endlich wieder, die Verdammten dieser Erde.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Leander F. Badura

Redakteur Kultur (Freier Mitarbeiter)

Leander F. Badura kam 2017 als Praktikant im Rahmen seines Studiums der Angewandten Politikwissenschaft in Freiburg und Aix-en-Provence zum Freitag, wo er bis 2019 blieb. Nach einem Studium der Lateinamerikastudien in Berlin und in den letzten Zügen des Studiums der Europäischen Literaturen übernahm er 2022 im Kultur-Ressort die Verantwortung für alle Themen rund ums Theater. Des Weiteren beschäftigt er sich mit Literatur, Theorie, Antisemitismus und Lateinamerika. Er schreibt außerdem regelmäßig für die Jungle World.

Leander F. Badura

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