Die Wiedergeburt

Tanger Lange lebte die Stadt am "Tor zu Afrika" kulturell von ihrer bewegten Vergangenheit. Eine neue Generation bringt Schwung in die Legenden

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Anfang September in der Rue de la liberté, Hausnummer 32: Ein Durchgang führt zu einem Gitter, das mit grünen Platten blickdicht ausgekleidet wurde. Nichts weist darauf hin, dass sich dahinter ein historischer Schatz verbirgt – der Bazar franco-inglés, ein seit einigen Jahren geschlossenes und verlassenes Gemischtwarengeschäft, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts von jüdischen Händlern eröffnet wurde. Doch an diesem Tag ist der Laden der Öffentlichkeit zugänglich. Die Initiative „Être ici“ („Hier sein“) hat es sich zur Aufgabe gemacht, geschlossene Orte in der Stadt aufzuspüren und in Zusammenarbeit mit Künstlern an einem Wochenende in Form eines „Parcours artistique“ zugänglich zu machen. Die Veranstaltung fand 2014 zum ersten Mal statt, 2016 ist das zweite Mal. Auf einer Karte sind die Orte verzeichnet: Die Festung „Borj N’âam“ im Norden der Altstadt mit ihrer riesigen Armstrong-Kanone, die noch immer auf die Straße von Gibraltar gerichtet ist, ist Schauplatz von Tanz und Skulpturen, in den Katakomben befinden sich Videoinstallationen. Im Kasbah-Viertel der Altstadt öffnen sich die Tore des Akaaboune-Palasts. Wie die meisten Stadtpaläste ist das Gebäude von außen unscheinbar, das Innere jedoch mit überwältigenden Arabesquen versehen. Im Innenhof sitzen die BesucherInnen und lauschen einem jungen Mann, der eine seiner Geschichten vorliest. Ein Mann in weißem Hemd und grauer Weste serviert gezuckerten grünen Tee mit Minze. In diesem Palast fanden einst große Feiern statt, die Rolling Stones nahmen hier ein Lied auf – bis er verfiel und erst vor kurzem renoviert wurde. Am Fuße des Kasbah-Viertels, vor den Toren der Altstadt und neben einem großen Park, hat das Mendoubia-Museum geöffnet. Früher wie heute Sitz verschiedener Verwaltungsinstanzen, haben heute KünstlerInnen das obere Stockwerk bezogen. Im Gang hängen Origami-Vögel, die Fenster leuchten bunt und in einer Ecke können sich die BesucherInnen in Anwesenheit der Künstlerin fotografieren lassen. In einem großen Saal führt eine Künstlerin eine Performance vor, an der Wand hängt eine Leinwand, auf der die Anwesenden selbst zu KünstlerInnen werden dürfen. Am Grand Socco, dem zentralen Platz zwischen Alt- und Neustadt, vorbei geht es die rue de la liberté hinauf. Neben dem bereits erwähnten Bazar franco-inglés gibt es hier das „Appartement Güitta“ zu besichtigen, das sich im obersten Stockwerk eines etwa hundert Jahre alten Gebäudes befindet. Auch die Familie Güitta ist jüdisch, auch sie hat die Stadt inzwischen verlassen. Das Appartement ist unbewohnt aber noch teilweise möbliert, der Stuck teilweise von der Decke gestürzt, dennoch gewährt es einen Einblick in eine längst vergangene Zeit. Hier lesen hauptsächlich arabischsprachige Autoren aus ihren Werken, einige Skulpturen sind ebenfalls ausgestellt. Im Bazar franco-inglés spielen Lichtinstallationen und in unscheinbaren Gefäßen untergebrachte Goldfische mit der Dunkelheit des Raumes. Von Keramik über alte Bücher bis zu Spielzeug aus Plastik liegt hier alles herum; der nur teilweise zugängliche Hinterraum verspricht eine Fülle von Schätzen, die jedes Historiker- und Sammlerherz höherschlagen lassen. Zu guter Letzt führt der „Parcours artistique“ in das ehemalige Atelier des katalanischen Malers Tapiró. Ebenfalls in einem alten Stadtpalast in der Medina untergebracht, findet hier eine Theatervorstellung statt.

„Être ici“ ist symptomatisch für das kulturelle Leben in Tanger. Einerseits dieses überwältigende historische Erbe, andererseits der Blick nach vorne, mit jungen KünstlerInnen aus Marokko aber auch aus anderen Teilen der Welt. Die Stadt, die schon zu punischen Zeiten entstand, war ab dem Ende des 19. Jahrhunderts ein Sehnsuchts- und Zufluchtsort für Künstler und Aussteiger aller Art. Zunächst Diplomatenstadt, zogen viele EuropäerInnen in die Stadt. Ihre geografische Lage – von vielen Stellen aus kann man das spanische Festland sehen – das mediterrane Klima und der seit jeher bestehende kosmopolite Charakter einer Handelsstadt machten die Stadt attraktiv. Es bildeten sich englische, spanische, französische, amerikanische, deutsche Gemeinschaften. Die anglikanische St. Andrews Church ist bis heute aktiv, ebenso die spanische und die französische Gemeinde. Die „Deutsche Marokko-Zeitung“, in Tanger 1907 publiziert, hatte nur etwa ein Jahr Bestand. 1905 löste Kaiser Wilhelm II. hier mit einer Rede die Marokkokrise aus, einen der diplomatischen Vorboten des Ersten Weltkriegs. Als Marokko 1912 schließlich in ein spanisches und ein französisches Protektorat aufgeteilt wurde, blieb der Status der Stadt zunächst ungeklärt, bis sie dann 1923 in eine internationale Zone verwandelt wurde. Unter der Verwaltung von acht Mächten – Frankreich, Spanien, Großbritannien, Niederlande, Belgien, Portugal, Sowjetunion und seit 1928 Italien – und als entmilitarisierte Freihandelszone wurde die Stadt zum Magneten für Künstler aus aller Welt. Steuerprivilegien, Schmuggel, Haschisch aus dem nahen Rif-Gebirge, unzählige Bordelle – vieles, was die Stadt damals ausmachte, ist heute kaum noch vorstellbar. Am berühmtesten ist wohl die Beat-Generation, von denen viele nach Tanger kamen, um sich von der Stadt und ihren Substanzen inspirieren zu lassen. Paul Bowles blieb gleich dort – der amerikanische Schriftsteller verstarb 2002 in Tanger, heute widmet sich ihm eine Ausstellung im „American Legation Museum“. Tennessee Williams, Truman Capote, William S. Burroughs – sie alle traf man damals in der Stadt, angeblich nur selten nicht unter THC-Einfluss.

Doch diese Zeiten sind längst vorbei. Die meisten der etwa 60.000 Europäer, die 1956 in der Stadt lebten (von damals 150.000 Einwohnern), haben die Stadt verlassen oder sind gestorben, ohne dass Andere nachgezogen wären, gleichzeitig zogen Hunderttausende Marokkaner aus dem Süden in die Stadt. Nachdem sie 1956 in das Staatsgebiet des unabhängig gewordenen Marokkos eingegliedert wurde, galten nicht nur die strengen Gesetze des neuen Staates, König Hassan II. ließ zugleich den gesamten Norden des Landes systematisch außer Acht. Nicht umsonst stammen ein Großteil der in Europa lebenden MarokkanerInnen aus Nordmarokko. Dazu kam, dass es in den ersten Jahrzehnten kaum ein Bewusstsein für das historische Erbe der Stadt gab und eine teilweise brutale „Marokkanisierung“ der Stadt stattfand. Viele Gebäude wurden abgerissen oder bis zur Unkenntlichkeit renoviert – wie das einst legendäre Café Colón, das heute jedem beliebigen marokkanischen Straßencafé gleicht. Auch die Quellen wurden mit der Zeit immer schwieriger zugänglich. So kursieren insbesondere was die Zeit vor 1900 angeht immer noch viele Mythen, die auf einen französischen Report vom Anfang des 20. Jahrhunderts zurückgehen. Camille Saint-Saens soll beispielsweise am Petit Socco, dem zentralen Platz der Altstadt und Herz der Stadt vor dem Bau der Neustadt, im Hotel Fuentes seinen „Danse macabre“ komponiert haben. Das Hotel Fuentes stand jedoch zu jener Zeit überhaupt nicht. Wo genau er untergekommen war, und ob er tatsächlich seinen Totentanz in der Stadt komponiert hat, ist unklar. Es mag ein Detail sein, doch von solchen Details lebt der Mythos Tanger. Sie werden aufgegriffen und reproduziert, ob sie nun wahr oder nur teilweise wahr sind, darum scheinen sich etliche Reiseführer kaum zu kümmern.

Doch seit etwa 15 Jahren geht es mit der Stadt wieder aufwärts – und nicht nur wirtschaftlich. Der seit 1999 regierende König Mohammed VI. hat das Potential Nordmarokkos und des Tourismus erkannt. Seit 2007 gibt der zwischen Tanger und der spanischen Enklave Ceuta liegende Hafen Tanger-Med der Region wirtschaftlichen Aufwind; derzeit wird an einer Schnellzugtrasse gebaut, die die Verbindung in das wirtschaftliche Herz des Landes – zwischen Kénitra und Casablanca – deutlich verbessern soll. Doch auch in der Stadt tut sich einiges. Der Grand Socco wurde neugestaltet, ebenso die Strandpromenade der Neustadt. Überall sprießen luxuriöse Vorstädte aus dem Boden, inzwischen hat die Stadt etwa eine Million Einwohner. Der Kontext ist also ideal für eine Wiederbelebung des kulturellen Lebens der Stadt. Und tatsächlich ist sie bereits heute eine der attraktivsten Städte Marokkos für Auswanderer aus dem Westen. Initiativen wie „Être ici“, aber auch dauerhafte Einrichtungen, ermöglichen es MarokkanerInnen und Internationalen, in einen kulturellen Diskurs zu treten, der sich von der stark islamisch geprägten und so Ausländern schwer zugänglichen Populärkultur unterscheidet. So waren die meisten der über 30 Künstler bei „Être ici“ MarokkanerInnen; einer der traditionsreichsten Orte ist die „Librairie des Colonnes“, die frankophone Literatur verkauft. Die jüngere „Librairie Les Insolites“ bietet vor allem (ebenfalls französischsprachige) Literatur mit Bezug auf Land und Stadt, aber auch in geringen Auflagen erscheinende Bücher und große Klassiker an, ist jedoch auch ein Ort für Fotoausstellungen. Seit ein paar Jahren befindet sich im dem Kinosterben zum Opfer gefallenen „Cinema Rif“ am Grand Socco die „Cinemathèque de Tanger“ – die einzige Einrichtung ihrer Art in Nordafrika. Hier werden nationale und internationale Filme gezeigt, Festivals aufgegriffen und veranstaltet, das Café ist ein beliebter Treffpunkt für junge MarokkanerInnen und die internationale Gemeinschaft. Dazu kommt „Tabadoul“, ein in einer ehemaligen spanischen Pflasterfabrik untergebrachtes Kulturzentrum. Konzerte, Theater, Festivals – Tabadoul ist einer der Orte, an dem auch die von MigrantInnen mitgebrachte Kultur eine Plattform bekommt. Denn Tanger ist nach wie vor ein wichtiger Punkt für MigrantInnen auf dem Weg nach Europa, doch immer mehr Menschen aus Subsahara-Afrika lassen sich hier dauerhaft nieder und verleihen der Stadt wieder einen kosmopoliten Flair. Und natürlich sind auch die staatlichen Akteure, in erster Linie das Institut Français und das Instituto Cervantes aber punktuell auch das Goethe-Institut, beteiligt, wenn es um Ausstellungen, Lesungen und Konzerte geht. Und dann ist da noch das schon seit 17 Jahren stattfindende Tanjazz, das Jazzfestival, das Besucher aus aller Welt anlockt.

Das Aufkommen neuer Initiativen, ob es nun finanzstarke Akteure oder kleine Verbände sind, hat auch dazu geführt, dass der eine oder andere einst legendäre Ort es zu neuer Blüte geschafft hat. Das Grand Hotel Villa de France, das jahrzehntelang leer stand und dem Verfall anheimgegeben worden war, wurde 2014 wiedereröffnet. In dem Luxushotel befindet sich die „Suite Matisse“, das Zimmer von dem aus Henri Matisse eine berühmte Ansicht der Stadt malte. Bald dürfte außerdem die Renovierung des „Gran Teatro Cervantes“ beginnen. Das 1913 erbaute Theater, das in den 1970er Jahren geschlossen wurde, gehörte bis letztes Jahr dem spanischen Staat. Dieser hat es nun an Marokko verkauft, das sich im Gegenzug dazu verpflichtete, das Gebäude zu renovieren. Interessierte Historiker atmen auf, doch noch ist nicht klar, wie das Gebäude genutzt werden soll. Gewiss ist: in der Stadt gelingt der Spagat zwischen Erinnerung und Blick nach vorn.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Leander F. Badura

Redakteur Kultur (Freier Mitarbeiter)

Leander F. Badura kam 2017 als Praktikant im Rahmen seines Studiums der Angewandten Politikwissenschaft in Freiburg und Aix-en-Provence zum Freitag, wo er bis 2019 blieb. Nach einem Studium der Lateinamerikastudien in Berlin und in den letzten Zügen des Studiums der Europäischen Literaturen übernahm er 2022 im Kultur-Ressort die Verantwortung für alle Themen rund ums Theater. Des Weiteren beschäftigt er sich mit Literatur, Theorie, Antisemitismus und Lateinamerika. Er schreibt außerdem regelmäßig für die Jungle World.

Leander F. Badura

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