Am Gendarmenmarkt in Berlin-Mitte steht das Hotel Regent. Der zur Schau getragene Luxus alter Schule – Marmor, Holzvertäfelung, Kronleuchter – lässt es wirken wie aus einem Roman Joseph Roths. Hier, bei Klaviermusik und klimperndem Silberbesteck, empfängt der bulgarische Politologe Ivan Krastev, gerade auf Konferenz- und Vortragsreise zwischen Wien, Moskau, Berlin und London, zum Gespräch.
der Freitag: Herr Krastev, vor 30 Jahren begann in Osteuropa eine tiefe Transformation. Heute steht die Region im Allgemeinen wohlhabender und freier da. Dennoch gibt es einen großen antieuropäischen und antiliberalen Aufstand. Was ist passiert?
Ivan Krastev: Die Europäische Union wurde auf der Grundlage der Angst vor der Vergangenheit errichtet. Jetzt haben Sie Europäer, die die Zukunft fürchten. 1989 wurde die liberale Demokratie als das Ende der Geschichte angesehen. Es war das einzige Modell, alle anderen waren korrumpiert, es gab keine Universalmodelle mehr. Was Francis Fukuyama sagte, war elaborierter, als ihm vorgeworfen wurde: Ich weiß nicht, wie Russland zu einer liberalen Demokratie werden soll. Aber es gibt ein Modell zu imitieren. Das Ende der Geschichte war das Zeitalter der Nachahmung. Was er völlig außer Acht gelassen hat: Nachahmung ruft Ressentiments hervor.
Was bedeutet das?
Es erzeugt Ressentiments gegenüber denen, die imitieren, und auch gegenüber denen, die imitiert werden. George Bernard Shaws Schauspiel Pygmalion ist die Geschichte eines Professors, der wettet, dass er mehrere Monate lang einem Blumenmädchen aus East London beibringen kann, wie eine Dame zu sprechen, dass er sie auf einen Ball bringen und keiner erkennen wird, dass sie nicht aus der Oberschicht ist. Er tut es, sie beeindruckt alle. Als man anfing, das Stück zu inszenieren, bestand das Publikum darauf, dass das Mädchen den Professor heiraten sollte. Aber Shaw schrieb: „Ihr versteht es nicht. Sie wird ihn nie heiraten; denn sobald sie anfängt, wie eine Dame zu sprechen, will sie wie eine Dame behandelt werden.“ Etwas Ähnliches geschah in den Ost-West-Beziehungen.
Das müssen Sie genauer erklären.
Die Beziehungen, die der Imitierte und der Nachahmer haben, sind nicht gleich. Es gibt Überlegenheit. Einer ist besser als der andere. Was in Zentral- und Osteuropa geschieht, ist in hohem Maße eine Revolte gegen die Nachahmung. Die Nachahmung eines Partners ist eine sehr kompetitive Beziehung, die sich stark auf die eigene Identität auswirkt. Wenn ich er sein will – heißt das, dass ich selbst keinen Wert habe, dass meine eigene Identität eine minderwertige ist? Anti-Imitations-Rhetorik ist für die radikale Rechte sowohl in Polen als auch in Ungarn äußerst wichtig. Sie sagen: Wir werden euch nicht imitieren. Ihr werdet uns nachahmen, sagt Orbán.
Bedeutet das, dass es eher eine kulturelle Krise ist, und keine der ökonomischen Fragen?
Wirtschaftliche Fragen sind wichtig. Aber sie können etwa Polen so nicht erklären. Die Wirtschaft wächst, es gab keine Rezession, sogar die soziale Ungleichheit ging zurück. 97 Prozent der Polen sagen, dass sie mit ihrem individuellen Wirtschaftsleben zufrieden sind. Das ist anders als in Italien oder Spanien. Der kulturelle Bruch ist entscheidend. Da geht es um mehr als die Frage der Nachahmung. Osteuropa erlebt eine enorme Veränderung der Bevölkerung – die andere Quelle des Grolls. Als Folge der Öffnung der Grenzen, die unser aller Traum war, konnten wir reisen – also reisten wir.
Einige kamen nie wieder zurück.
Eine große Zahl nicht! Fast ein Drittel der Bevölkerung der baltischen Republiken ist nicht mehr dort. 3,4 Millionen Rumänen, etwa 70 Prozent von ihnen jünger als 40 Jahre, verließen ihr Land in den ersten zehn Jahren.
Warum sind so viele gegangen?
Der Kommunismus war eine zeitbasierte Utopie. Man versuchte, eine Gesellschaft zu schaffen, die es vorher nicht gab. Es war die Zukunft. Stets ging es darum: Wir werden nicht in dieser Gesellschaft leben, unsere Kinder werden dort leben. Dann kam 1989. Und die Zukunftsvorstellung hat sich verändert. Die Zukunft ist nicht voraus in der Zeit, sie ist neben einem im Raum. Die Zukunft ist Deutschland. Aber was ist passiert? Jeder Revolutionär will in der Zukunft leben. Nach Revolutionen verlassen in der Regel deren Verlierer das Land. Eins der vielen Paradoxa von 1989 ist, dass die Liberalen die Ersten waren, die nach den liberalen Revolutionen gegangen sind. Weil sie in der Zukunft leben wollten. Sie gingen nach Deutschland.
Zur Person
Ivan Krastev, Jahrgang 1965, ist Vorsitzender des Centre for Liberal Strategies in Sofia, Bulgarien, und Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien. Sein viel zitierter Essay Europadämmerung erschien 2017 bei Suhrkamp
Was hat das mit den Gesellschaften gemacht?
Sie verloren nicht einfach nur die Bevölkerung, sondern auch das gesamte Geld, das in ihre Ausbildung investiert wurde – übrigens ein großer Geldtransfer von Ost nach West. Es hat auch das Elektorat verändert. Den liberalen Parteien geht es nicht gut, weil ihre Wähler nicht da sind. Und es gibt einen psychologischen Effekt, wenn man an einem Ort lebt, von dem alle weggehen. Da ist es dann nicht mehr so wichtig, wenn es einem selbst besser geht. Dann beginnt man, die offenen Grenzen als Bedrohung zu sehen. Nicht nur, weil Außenseiter kommen werden, sondern auch, weil die eigenen Freunde gehen.
Also war 1989 eigentlich eine Katastrophe für Osteuropa?
Es war das Beste und das Schlechteste zugleich. Das Tragische ist: Die Leute wissen nicht, wie sie darüber reden sollen. Nur sehr wenige sind nostalgisch gegenüber dem Kommunismus. Und dann kommt diese Idee der Identitätspolitik, des Traditionalismus, der versucht, den eigenen Ort aufzuwerten.
Aber war diese Frage der Identität jemals wirklich weg?
Nein. Der Nationalismus war stets präsent. In Zentral- und Osteuropa wurden nicht nur alle Nationen durch den Nationalismus geboren, der die großen Imperien zerstörte. Während des Kommunismus war die Opposition eine Koalition zwischen Liberalen und Nationalisten. So gab es in Prag 1968 eine starke nationalistische Rhetorik. Was ist 1989 mit den Nationalisten passiert? Durch die jugoslawischen Kriege wurden die Menschen an das zerstörerische Potenzial des Nationalismus erinnert. So ging für ein Jahrzehnt die nationalistische Rhetorik unter. Den EU-Beitritt unterstützten sie, weil er für sie einen Bruch mit dem Sowjetreich darstellte. Aber die Nachahmung des Westens war für diese Konservativeren sehr schwierig.
Warum?
Weil der Westen, den sie nachahmen wollten, in dem Moment verschwand, in dem sie begannen, ihn nachzuahmen. In den späten 80er Jahren mochten viele den Westen, weil er an Gott glaubte und traditioneller war. Plötzlich sahen sie den säkularen Westen, die Homo-Ehe etc. Dann fühlten sie, dass sie vom Westen verraten wurden. Die Vorstellung, dass ihre Identität in Gefahr ist, wurde sehr stark. Die harte Rechte mobilisierte das.
Diese identitäre Angst hat auch eine demografische Grundlage.
Ja, durch die Auswanderung und den Rückgang der Geburtenrate entstand eine massive Angst, dass wir verschwinden werden. Es ist auch zunehmend ein Problem für den Arbeitsmarkt. In Ungarn gab es zuletzt große Proteste gegen eine Reform, nach der die Leute mehr arbeiten sollten. Aber das ist ein Ergebnis der Tatsache, dass das Land für ausländische Arbeitnehmer gesperrt ist, während die eigenen gehen. Die deutschen Firmen dort fragen Orbán: Wen sollen wir einstellen? Er sagt: Okay, ich habe nicht genug Leute, aber ich werde zulassen, dass sie mehr arbeiten. Damit weniger gehen, beginnen sie mit der Rhetorik vom „echten Europäer“ – dem Traditionalisten. Demnach ist Deutschland nicht Europa, sondern der Nahe Osten: Wenn du dahin gehst, dann wirst du unter Syrern leben.
Rassismus spielt keine Rolle?
Rassismus ist in unseren Ländern eine Realität. Er ist auch in vielen westeuropäischen Gesellschaften Realität. Umfragen zeigen, dass die Intoleranz im Osten höher ist als im Westen. Aber seien Sie vorsichtig, wenn Sie Menschen in „tolerant“ und „intolerant“ aufteilen. Die Forschung zeigt auch, dass liberalere und besser ausgebildete Gruppen in der Gesellschaft viel toleranter sind, wenn es um ethnische, religiöse oder geschlechtsspezifische Unterschiede geht, aber sie sind gleichgültiger, wenn es um Menschen geht, die ihre politischen Ansichten nicht teilen.
Als Linker würde ich nationalistische Gefühle stets als illegitim zurückweisen. Sie scheinen eher dafür zu plädieren, sie zu akzeptieren. Geben wir den Autoritären so nicht, was sie wollen?
Als Linker haben Sie das Recht, nationalistische Gefühle als illegitim zu betrachten, aber als jemand, der sich um den liberalen Charakter unserer Gesellschaften kümmert, werden Sie falschliegen, wenn Sie jeden Ausdruck der Loyalität gegenüber der nationalen Gemeinschaft als Verbrechen qualifizieren. Die Demokratie ist viel stärker mit dem Nationalismus verbunden, als wir bereit sind anzuerkennen. In der demokratischen politischen Gemeinschaft geht es immer um Inklusion, aber auch um Exklusion. Wenn es also in Ihrer Welt nur Individuen und die Menschheit gibt und Sie Manifestationen von Nationalstolz oder Loyalität kriminalisieren, tragen Sie auch zur Intoleranz in der Gesellschaft bei.
Ist die „Europadämmerung“ unvermeidlich oder gibt es eine Chance, Europa, Demokratie und Liberalismus zu retten?
Ich glaube nicht, dass etwas unvermeidlich ist. Demokratische Politik hat den Reiz, dass sie die Zukunft für verschiedene Entwicklungen offen hält. Im Gegensatz zu vielen, die die EU als selbstverständlich betrachten, weiß ich, dass die Dinge schiefgehen können und das Festhalten am Status quo eine der größten Gefahren für das Überleben der EU ist. Es wird weithin davon ausgegangen, dass es in Europa die gibt, die an Europa, und die, die an den Nationalstaat glauben, und dass die EU gerettet wird, wenn die Pro-Europäer über die Nationalisten siegen. Aber die Ergebnisse einer YouGov-Umfrage in 14 EU-Mitgliedstaaten zeigen, dass die größte Gruppe in Europa die sind, die glauben, dass weder die Union noch ihre nationale Regierung funktionieren.
Was also tun?
Wenn die EU auf der Angst der Europäer vor der Vergangenheit, vor allem der des 20. Jahrhunderts, aufbaut, besteht die Herausforderung jetzt darin, die Union neu zu erfinden, wobei zu berücksichtigen ist, dass Europa nun von der Angst vor der Zukunft bestimmt wird. Wenn einige das Ende der Welt wegen der unverantwortlichen Politik ihrer Regierungen im Hinblick auf den Klimawandel fürchten, fürchten andere, dass sie bis zum Ende des Monats nicht überleben können. Wie man diese beiden Gruppen – die gelben Westen, die sich jeder Benzinpreiserhöhung widersetzen, und die Jungen auf der Straße, die eine Politik fordern, die den Planeten rettet – dazu bringt, miteinander zu sprechen, eine gemeinsame Zukunft zu projizieren, ist die eigentliche Herausforderung, nicht nur für Europa.
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