„Einer Demokratie nicht würdig“

Interview Der Bundestagsabgeordnete Özcan Mutlu über seinen Versuch, Deniz Yücel in der Haft zu besuchen, und die Motive der Türkei
Ausgabe 09/2017
Özcan Mutlu: „Man wollte ein Exempel an ihm statuieren“
Özcan Mutlu: „Man wollte ein Exempel an ihm statuieren“

Bild: Jon MacDougall/AFP/Getty

Herr Mutlu, Deniz Yücel sitzt seit Montag in Untersuchungshaft. Wie geht es jetzt weiter mit ihm?

Das ist eine gute Frage. Keiner weiß, was in den Köpfen der Politiker in Ankara vorgeht. Die Untersuchungshaft kann im schlechtesten Fall 5 Jahre dauern – wenn eine Verurteilung kommt, vielleicht noch länger. Aber ob es dazu kommt, wissen wir nicht. Ich habe eher das Gefühl, dass Deniz für irgendeinen Deal mit Berlin benutzt wird. Anscheinend hat Frau Merkel bislang die Forderung aus Ankara nicht akzeptiert, sodass es zu einer Verurteilung durch einen Bereitschaftsrichter gekommen ist.

Zur Person

Özcan Mutlu wurde in der Türkei geboren und lebt seit 1973 in Berlin. Seit 2013 sitzt er für die Grünen im Bundestag, zuvor war er Mitglied im Berliner Abgeordnetenhaus

Was meinen Sie damit?

Wenn in der Türkei Bereitschaftsrichter Urteile fällen, dann sind das in der Regel politische Urteile. Deniz wurde um 13 Uhr vom Polizeigewahrsam abgeholt. Man hat dann bis 17 Uhr gewartet, damit der bereitschaftshabende Staatsanwalt und Richter ihn vernehmen – und entsprechend auch verurteilen können. Diese Staatsanwälte und Richter sind sehr darauf ausgerichtet, zu gucken, welche Urteile Ankara genehm sind.

Von welcher Forderung an Angela Merkel sprechen Sie?

Da müssen Sie schon das Kanzleramt fragen. Meine Annahme ist, dass es da etwas gibt. Denn die türkischen Behörden haben bis zuletzt gewartet, ehe sie Deniz Yücel in Untersuchungshaft nahmen. Vermutlich haben sie auf eine Reaktion aus Deutschland gewartet. Die ist vermutlich aus der Sicht von Ankara nicht positiv gewesen. Anders ist kaum zu erklären, warum er dreizehn lange Tage in Polizeihaft war. Die Vernehmungen und Ermittlungen waren schon am zweiten Tag beendet. Man hätte ihn eigentlich dann schon freilassen oder dem Haftrichter vorführen müssen. Man hat stattdessen lange gewartet. In meinen Augen ist das ein klares Indiz dafür, dass man an ihm ein Exempel statuieren wollte.

Warum taugt Deniz Yücel dafür besonders gut?

In der Türkei sind mit Deniz Yücel inzwischen 155 Journalistinnen und Journalisten in Haft. Aber Deniz ist der erste, der aus Deutschland kommt. Ich glaube, man möchte auch mit dem Zaunpfahl winken und sagen: „Passt bloß auf, wenn ihr zu kritisch seid, geht’s euch genauso.“ Deniz ist ein guter Journalist und er hat nichts anderes als seine Arbeit gemacht, so wie es sich in einer Demokratie gehört. Die Pressefreiheit ist ein Grundpfeiler der Demokratie. In der Türkei sind die Journalisten mehr oder weniger mundtot gemacht worden. Es sind kaum noch freie Medien vorhanden, 5.000 Journalisten haben in den letzten 15 Monaten ihren Job verloren. All das sind sehr bedrückende und erschreckende Zahlen.

Eine Präsidialherrschaft

Kann es vielleicht sein, dass die Türkei ein Tauschgeschäft mit den türkischen Nato-Diplomaten einfädeln wollte, die vor kurzem Asylanträge in Deutschland gestellt haben?

Ich glaube nicht, dass Herr Erdoğan bestimmte Leute gerne wieder im Land haben will. Er ist froh, wenn sie bei seinem Versuch, eine Präsidialherrschaft einzurichten, nicht mehr lästig werden können. Er will Exekutive, Legislative und Judikative in seiner Hand haben, da stören erfahrene Diplomaten nur. Aber das Kanzleramt weiß da sicher mehr.

Glauben Sie, dass Erdoğan auf Zeit spielt? Und auf den Tag des Referendums wartet, um dann noch härter vorgehen zu können?

Das braucht er doch gar nicht. Erdoğan kann jetzt schon tun und lassen, was er will, es gibt ja niemand, der ihm seine verfassungsmäßigen Grenzen aufweisen kann. Im Grunde ist er de facto schon jetzt ein Präsident mit Allmacht, aber er möchte das gerne mit dem Referendum auch de jure besiegeln. In Richtung Deutschland kann ich nur sagen: Vielleicht benutzt Erdoğan Deniz nur als Pfand. Er beabsichtigt angeblich, demnächst nach Deutschland zu kommen. Es kann sein, dass er in dem Zusammenhang noch ein Pfund in der Hand haben möchte.

Tut die Bundesregierung denn genug für Deniz Yücel?

Die Bundesregierung hat festgestellt, dass seine Haft „bitter“ ist. Und Frau Merkel ist enttäuscht, wie sie sagt. Leider hilft das Deniz Yücel überhaupt nicht. Frau Merkel war in den letzten 12 Monaten fünfmal in der Türkei. Sie hat bis zu ihrem letzten Besuch, bei dem sie endlich auch mal die Opposition getroffen hat, kein einziges Mal die Themen Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Menschenrechte oder Rechtsstaatlichkeit angesprochen. Das wurde natürlich als Zeichen der Schwäche gedeutet. Inzwischen sind sie in Ankara so selbstsicher und so selbstbewusst, dass sie Forderungen aus Berlin einfach ignorieren. Ich sehe wenig diplomatische Mittel dagegen.

Liegt die zahme Reaktion am EU-Türkei-Abkommen?

Ich bezweifle, dass der EU-Türkei-Deal inzwischen noch Erpressungspotenzial birgt. Die meisten syrischen Flüchtlinge, die jetzt in der Türkei leben – es sind ca. 3 Millionen –, haben sich in den Großstädten der Türkei – in Istanbul, Izmir, Gaziantep und an den Grenzstädten – niedergelassen. Die Kinder gehen zur Schule, man hat Arbeit, sich teilweise selbstständig gemacht.Viele werden sich diesen schweren Marsch nach Europa nicht antun. Dieses Drohpotenzial gibt es also nicht mehr. Deshalb könnte Berlin meines Erachtens ruhig ein bisschen selbstbewusster gegenüber Ankara auftreten.

Ließe sich das, nachdem er jetzt in Untersuchungshaft ist, nochmals versuchen? Gibt es jetzt eine Grundlage?

Die Grundlage ist jetzt eine andere. In Untersuchungshaft gelten andere Regularien als bei Polizeigewahrsam. Ich hoffe, dass jetzt die Haftbedingungen besser sind, weil sie in Polizeihaft nicht sehr rosig waren. Er war in einer ca. Sechs-Quadratmeter-Zelle, in der zwei bis vier Leute untergebracht sind, mit zwei Liegeflächen. Es gibt keine warme Mahlzeiten, keine warmen Getränke, das Licht brennt die ganze Zeit. Das ist natürlich sehr bedrückend, und vermutlich ist es jetzt im Gefängnis ein bisschen anders.

Alle Journalisten müssen freigelassen werden

Die Welle der Solidarität ist groß. Bringt Deniz Yücel das etwas oder ist das mehr Selbstbeweihräucherung der Leute hier?

Ich würde das, was die Menschen tun, die ganzen Autokorsos, Kundgebungen usw. nicht als Selbstbeweihräucherung kleinreden. Das ist wichtig, das ist Solidarität, das ist ein Zeichen, dass wir uns damit nicht abfinden und Deniz freigelassen haben möchten. Deshalb finde ich, dass in ganz Deutschland, vielleicht sogar in Europa, mehr Menschen auf die Straßen gehen und deutlich sagen sollten: Free all jailed journalists in Turkey! Alle Journalisten, die in der Türkei verhaftet und nur wegen Ausübung ihres Jobs, ihrer journalistischen Tätigkeit in Haft sind, müssen freigelassen werden. Deniz ist einer von 155, und das ist einer Demokratie nicht würdig.

Was ist Ihr Eindruck, wie die Reaktion der türkischen Community hier ist? Die ist ja sehr gespalten, was Erdoğan angeht.

Ja, die Community hier ist gespalten, in der Tat. Ich sehe das ja auf meinem Facebook- und Twitter-Account. Ich kriege eine Menge Hassmails, seit ich in der Türkei war. Auf der anderen Seite sind es auch sehr viele, die sich solidarisieren und an Protestaktionen teilnehmen. Das ist erfreulich. Aber Fakt ist auch: die Spaltung der türkischen Gesellschaft, die in der Türkei ja schon sehr tief ist, wird immer mehr auch in Deutschland sichtbar.

Was wird Deniz Yücel genau vorgeworfen und woran werden diese Vorwürfe festgemacht? Was ist genau der Inhalt dieser Vorwürfe?

Er hat die Finger in die Wunde gelegt. Zum Beispiel, warum so viele Journalisten inhaftiert sind. Oder warum der Friedensprozess mit den Kurden gestoppt worden ist. Und zuletzt hat er auch gehackte Emails vom Schwiegersohn des Präsidenten, der zugleich Energieminister ist, öffentlich gemacht. Das alles macht man ihm jetzt zum Vorwurf. Die offizielle Anklage lautet Terrorpropaganda und Aufwiegelung des Volkes.

Was passiert denn eigentlich, wenn Deniz Yücel jetzt bis zum Referendum und den neuen Möglichkeiten in Haft ist?

Das Thema Referendum ist für den Fall nicht von Bedeutung. Erdoğan braucht Deniz nicht für das Referendum. Ich glaube auch nicht, dass sich nach dem Referendum an den Haftbedingungen etwas ändern wird.

Werden Sie nochmal versuchen, Deniz Yücel zu besuchen?

Ich kann mir das durchaus vorstellen. Er braucht unsere Solidarität und unsere Unterstützung und er muss wissen, dass wir ihn nicht allein lassen. Das baut Menschen auf, die inhaftiert sind. Wenn man weiß: da draußen sind Leute, die erheben ihre Stimme für mich, dann hilft das. Das macht das ganze Leid, was einem zugefügt wird, ein wenig erträglicher. Aber das reicht natürlich nicht. Die Bundesregierung muss viel deutlicher und klarer nicht nur kritisieren, sondern Forderungen aufstellen und vielleicht sogar mit Konsequenzen drohen.

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