Am Morgen werden wieder einmal flächendeckende Stromausfälle aus Venezuela gemeldet. Karina Sainz Borgo betrifft das nicht, sie lebt seit Langem in Spanien. Aber die Krise in dem südamerikanischen Staat ist das eigentliche Thema ihres Debütromans. Adelaida Falcón trägt ihre Mutter zu Grabe in einem Land, das marodierende Banden und Milizen im Namen eines herrschenden „Comandante“ im Chaos versinken lassen. Von diesen wird sie ihrer Wohnung beraubt. Als sie feststellt, dass ihre Nachbarin tot ist, aber einen frisch ausgestellten spanischen Pass hat, tut sich ihr eine Chance auf Rettung auf. Ich treffe Karina Sainz Borgo in einem Hotel in Prenzlauer Berg in Berlin. Sie spricht schnell im gehauchten Spanisch Venezuelas.
der Freitag: Frau Sainz Borgo, Ihr Roman spielt zwar im heutigen Caracas aber weder Chávez noch Maduro noch das Wort Sozialismus werden erwähnt. Es geht immer nur um „el comandante“ und „la revolución“. Was hat das mit dem echten Land zu tun?
Karina Sainz Borgo: Ich wollte ein elegantes Buch schreiben, und ich wollte, dass es auch in seinem politischen Ansatz elegant ist. Das Buch ist daher auf Allegorien und Metaphern aufgebaut. Ja, es basiert natürlich auf der venezolanischen Erfahrung. Aber es könnte genauso unter einem rechten Regime spielen. Jede übermäßige Macht könnte genau das Gleiche tun. Ich sage also nicht, dass das Buch die Wahrheit ist. Adelaida Falcón ist eine Darstellung dessen, was mit einem Land wie Venezuela passieren kann, wenn es unter ein Regime fällt, in dem ein Prozess der Missachtung der Bürger stattfindet, der am Ende dazu führt, dass Menschen von dem Ort, an den sie gehören, vertrieben werden.
Sie arbeiten auch als Journalistin. Wo liegt die Grenze zwischen Fiktion und Realität?
Es ist sehr seltsam, wir stellen uns diese Frage schon seit Jahrhunderten. Lesen wir zum Beispiel den realistischen Roman des 19. Jahrhunderts: War das Fiktion oder war es Journalismus? Was haben Dickens, Balzac oder Dumas getan? Wenn wir von der Tatsache ausgehen, dass es sich um eine Repräsentation handelt, hat jedes literarische Schaffen eine echte Grundlage.
Im Falle Ihres Buches, was ist diese reale Grundlage?
Alles, was Gewalt ist, ist real. Es steht da, weil ich es erlebt und gesehen habe. Ich erfinde keine Fabel. Aber das spricht das Buch nicht davon frei, ein literarisches Artefakt zu sein. Es hat sehr starke literarische Elemente. Ich habe einen Freund, der mir sagte, dieser Roman sei kein magischer Realismus mehr, sondern tragischer Realismus. Ich denke, er hat völlig recht. Denn am Ende müssen dir Bücher Unbehagen bereiten. Ich kann keine Fabel entwickeln, in der alle glücklich werden und das Land befreit wird und die bösen Jungs ins Gefängnis kommen. Das wirkliche Leben ist nicht so. Romane korrigieren die Realität nicht.
Schon vor der Veröffentlichung wurde „Nacht in Caracas“ in 22 Ländern verkauft. Jetzt sind es 26. Ungewöhnlich für ein Debüt.
Ich versuche auch, mir das zu erklären. Ich denke, der Roman hat einige Elemente, die universell sind. Er handelt im Grunde von der Schuld der Überlebenden. Darüber zu sprechen, hat vor allem im 20. Jahrhundert eine lange Geschichte. Europa weiß darüber sehr gut Bescheid. Das erzeugt Empathie. Und ich denke, es ist ein zeitloser Roman. Eine Geschichte, die zu jeder Zeit und in jeder Stadt passieren kann. Ja, es findet in Venezuela statt, aber es könnte wirklich in jeder Gesellschaft passieren, die so durchdreht.
Adelaida Falcón ist Ihnen nicht unähnlich, eine gebildete Frau der Mittelschicht, die im Kulturbereich arbeitet. Was haben Sie ihr von sich geliehen?
Ich habe ihr Erfahrungen und Leidenschaften geliehen. Wenn du in einer sehr gewalttätigen Gesellschaft aufwächst, gibt es Dinge, die für dich natürlich sind und die du für normal hältst. Diese Beziehung zum Tod, unsere Beziehung dazu, wie wir Menschen begraben. Und wenn man einen solchen politischen Prozess erlebt, gibt es Dinge, die unvermeidlich sind und die man nie vergisst. Der Gebrauch der Sprache, um eine Gesellschaft zu spalten: zwischen Oligarchen und Revolutionären, zwischen dem Volk und der Bourgeoisie. Solche Erlebnisse sind Dinge, die nicht so leicht gelöscht werden können. Sie sind Teil von Adelaida. Viele meiner Verwirrungen gehen durch sie hindurch, aber vor allem diese schmerzhafte Beziehung zu Tod und Erinnerung.
Zur Person
Karina Sainz Borgo wurde 1982 in Caracas, Venezuela, geboren. Vor knapp 13 Jahren emigrierte sie nach Spanien. Heute lebt Sainz Borgo in Madrid, wo sie als Journalistin für mehrere Zeitungen und Blogs arbeitet. Ihr Debütroman Nacht in Caracas erscheint dieser Tage in der Übersetzung von Susanne Lange im S. Fischer Verlag (224 S., 21 €)
Hat das auch damit zu tun, dass Sie als Journalistin arbeiten?
Natürlich, als Journalistin habe ich viele Dinge gesehen. Ich sah, wie Menschen gefoltert und inhaftiert wurden. Wenn ich zu Demonstrationen ging, sah ich Dinge, auf die ich nicht vorbereitet war. Das geht vielen in meiner Generation von Journalisten so. Plötzlich läufst du in eine Straße, in der allen in den Kopf geschossen wird, vor allem den Journalisten. Und das hat mich geprägt. Das dritte große Element, mit dem ich Adelaida Leben einhauche, ist, dass ich mich wie sie auch schuldig fühle, weil ich gegangen bin. Deshalb zitiere ich Borges am Anfang: „Man vermachte mir Mut. Ich war nicht mutig.“
Und dieses Schuldgefühl war der Impuls, das Buch zu schreiben?
Ja, ich habe dasselbe Gefühl wie Adelaida: Mama, ich war nicht mutig genug, die Dinge zu verteidigen, die uns gehörten. Und ich habe das Gefühl, ich hätte länger bleiben müssen, um das Land zu verteidigen. Aber ich bin mir auch nicht sicher, ob das möglich gewesen wäre. Denken Sie daran, dass es fast drei Millionen Venezolaner gibt, die geflohen sind. Anderthalb Millionen sind in Kolumbien, in Spanien sind es fast eine Million.
Sie leben seit bald 13 Jahren in Spanien. Wann waren Sie das letzte Mal in Venezuela?
Zum Jahreswechsel 2012/13. Chávez lag gerade in Havanna im Sterben.
Das war lange vor der Eskalation der letzten Jahre. Warum?
Niemand hat mich verfolgt und niemand hat mir etwas getan. Es war meine eigene Entscheidung. Doch schon damals erkannte ich das Land und mich selbst nicht wieder. Meine grundlegende Aufgabe, nämlich zu schreiben, wurde unmöglich. Nicht nur, weil es starke Einschränkungen der Informationsfreiheit gab, sondern auch, weil es keine Bücher gab. Immer weniger Bücher wurden veröffentlicht. Der gesamte kulturelle Bereich wurde zunehmend gegängelt. Das einst so wichtige venezolanische Verlagsunternehmen Monte Ávila, das in staatlicher Hand ist, verwandelte die Regierung in ein Propagandaorgan. Das Land blutete intellektuell aus.
Der Roman erzählt in gewisser Weise die Geschichte eines unerfüllten Versprechens der Modernisierung Venezuelas.
Ja, Sie haben völlig recht. Da gibt es die Anspielung auf die Gewohnheit der Mutter, zu lesen, und die Tatsache, dass die Protagonistin eine gebildete Person ist. Und es gibt diese sehr spezifische Stelle, das Haus des Architekten. Ein sehr schönes Haus in einer tellurischen Umgebung, von der es verschlungen wird. Dort gibt es diesen Anspruch des Fortschritts, aber es gilt auch als Geisterhaus, weil im Inneren Hexerei praktiziert wird. Die Protagonistin sieht dort zum ersten Mal Bücher von Gallimard, umgeben von lauter Hühnerfedern. Das war die perfekte Metapher für die Tropen, die alles verschlingen. Und es scheint, dass genau das Gleiche mit unseren Institutionen passiert ist. Als ob es eine große tellurische Kraft gegeben hätte, die am Ende alle Versuche, die das Land unternahm, Fortschritte zu erzielen, auffrisst.
Dieser Prozess der Modernisierung war historisch gesehen immer sehr exklusiv. Der Chavismo war auch ein Aufstand dagegen.
Das stimmt. Es gibt eine große Tragödie in Venezuela. Venezuela war ab Ende der 1950er Jahre eine der wenigen Demokratien Lateinamerikas. Es gab überall Diktaturen. Doch dem venezolanischen Parteiensystem, den Sozialdemokraten und den Christdemokraten, gelang es, ein Regierungssystem zu schaffen, in dem der Staat in der Lage war, sein Öleinkommen zu nutzen. Das große Problem war, dass das politische institutionelle System die tatsächliche Umverteilung all dieses Reichtums nicht erreicht hat. Im Lauf der 1980er Jahre begann die Situation sich zu verschlechtern. Mit anderen Worten, das Parteiensystem begann zu stagnieren, erkannte seine eigenen Risse und Probleme nicht.
Die den Chavismo hervorgebracht haben?
Als Hugo Chávez als Charakter auftaucht, ist er eine toxische Figur, die die Demokratie allerdings selbst hervorgebracht und genährt hat. Die Demokratie hat ihren letzten Moment der Klarheit im Jahr 1992: Er wurde für seinen missglückten Staatsstreich verurteilt. Doch ab da war Chávez ein politischer Märtyrer. Er schaffte es, alle sozialen Ressentiments zu kapitalisieren, zu wecken, sie zu beleben. Dieses Gefühl des Grolls: Dir schuldet das Land etwas, du wurdest nie berücksichtigt. Im Wahlkampf konnte er all unsere Geister und Gefühle für die gescheiterte Umverteilung des Reichtums nutzen. Chávez war für viele Menschen wirklich eine Illusion.
Ich habe den Eindruck, als lateinamerikanischer Schriftsteller kann man derzeit international vor allem ein Thema vermarkten: Gewalt.
Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Aber es stimmt vielleicht. Manchmal denke ich, dass es uns in Lateinamerika viel gekostet hat, uns vom Boom zu erholen. Es war sehr schwierig für uns, uns von diesem etwas exotischen, tellurischen Universum des magischen Realismus zu erholen, wo es auch ständig um die Frage ging: Wer schreibt den großen lateinamerikanischen Roman? Man durfte diese Väter auch nicht ermorden, bis Roberto Bolaño kam.
Warum Bolaño?
Bolaño hat sich in einem sehr seltsamen, sehr europäischen Stil über die großen Väter des Booms lustig gemacht Heute sind die Obsessionen, die in der zeitgenössischen lateinamerikanischen Literatur erzählt werden, sehr persönliche. Aber sie gravitieren zweifellos um bestimmte Themen herum, da scheint die Gewalt schon zentral zu sein. Bisher habe ich das nicht so deutlich gesehen. Aber Literatur ist eben der Platz der Dämonen, der Reinigung, der Wunden. Das kommt dann unweigerlich dabei heraus.
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