Linke haben Schwächen. Zum Beispiel für Utopien – und große Begriffe. Insbesondere seit dem Untergang des Realsozialismus ist das Bedürfnis danach groß. Einer dieser Begriffe, der vor etwa zehn Jahren in globale linke Debatten stieß, kommt aus Lateinamerika. Als „buen vivir“ beflügelt er die Fantasie postkolonialer Linker und Post-Wachstums-Theoretiker. Das ist verständlich, schon der Klang des Begriffs ist verheißungsvoll: „buen vivir“ – gut zu leben, das verspricht Harmonie und Bedürfnisbefriedigung und klingt nach einer Art politischer „dolce vita“. Dabei ist „buen vivir“ eigentlich irreführend. Ursprünglich heißt der Begriff „sumaq kawsay“, auf Kichwa, oder „suma qamaña“ auf Aymara, was aber für westliche Ohren weniger verlockend klingt.
Das „buen vivir“ indes hat eine steile Begriffskarriere hingelegt: Die sozialwissenschaftliche Zeitschrift Peripherie widmete ihm kürzlich eine Ausgabe. Und im Deutschlandradio Kultur lief anlässlich des Klimagipfels in Katowice eine Serie zu „Post-Wachstums-Ansätzen“, deren erste Folge sich um das „sumaq kawsay“ drehte.
Doch die Begeisterung, die der Begriff mancherorts auslöst und die Bandbreite an Aktivisten, die sich auf ihn einigen können, sollte misstrauisch machen. Näher betrachtet entpuppt sich „buen vivir“ nämlich als ein nahezu leerer Begriff – mindestens jedoch als einer, der von verschiedenen Seiten unterschiedlich gefüllt wird. Im Sinne von Chantal Mouffe und Ernesto Laclau kann man von einem „leeren Signifikanten“ sprechen, also einem Begriff, der so umfassend ist, dass er diskursive Differenzen tilgt. Doch wie kommt das? Und was bedeutet „buen vivir“ nun tatsächlich?
Kurz vor der Jahrtausendwende entwarfen indigene Intellektuelle aus dem andin-amazonischen Gebiet in Lateinamerika einen Begriff, mit dem die Weltsicht ihrer Ethnien für politische Artikulation fruchtbar gemacht werden sollte. Im Umfeld der Organización de Pueblos Indígenas de Pastaza (OPIP) wurde die Idee des „sumaq kawsay“ geboren. Sie griff Elemente indigener Weltsicht und Lebensweise auf und formulierte eine dreigliedrige Vision: Harmonie mit sich selbst, mit der Gemeinschaft und mit der Natur. Dabei ging es zentral um die Rekonstitution indigener Identität. Ursprüngliche „Kosmovisionen“ sollten wieder in den Mittelpunkt gestellt werden und das Erbe des Kolonialismus, der westliche Welt- und Wertvorstellungen brachte, zurückgedrängt werden.
Ziemlich unscharfer Begriff
So weit, so marginal. Doch als Mitte der 2000er Jahre in vielen Ländern Lateinamerikas linke Regierungen unterschiedlicher Prägung an die Macht kamen, entstand ein neues Umfeld, in dem der Begriff rasch fruchtbar werden sollte. So auch in Bolivien und Ecuador, wo der indigene Koka-Bauer Evo Morales beziehungsweise der Wirtschaftswissenschaftler Rafael Correa zu Präsidenten gewählt wurden. Als in beiden Ländern verfassunggebende Versammlungen einberufen wurden, landete „buen vivir“ auf dem Verhandlungstisch und wurde prominent platziert in den Verfassungen verankert. Nicht ohne Preis: Der hybride Begriff, der so entstanden war, hatte sich weit von seiner ursprünglichen indigenen Bedeutung entfernt .
Die Lage war vorteilhaft für seine Verbreitung: Die Linksregierungen sorgten für Sichtbarkeit, das neoliberale Glücksversprechen erhielt durch die Krise ab 2007 einen empfindlichen Dämpfer, was wiederum der globalisierungs- und wachstumskritischen Linken Aufschwung verlieh.
Nach 2008/09 entstanden dann aus dem „hybriden“ Begriff drei grobe Strömungen. Einerseits die auf Identität zielende indigenistische Variante, die gar kein universelles Modell sein will, sondern sich ganz im Gegenteil als Angriff auf den westlichen Universalismus versteht. Zweitens die staatssozialistischen Konzeptionen, die nicht nur in Bolivien und Ecuador, sondern auch in Nicaragua eine Rolle spielten. Und als Drittes das „buen vivir“ als Post-Development-Ansatz. Letzteres, übrigens ein ziemlich unscharfer Begriff, hat am stärksten internationale Verbreitung erlangt.
Doch auch begrifflich getrennt ergeben sich – ganz abgesehen von seiner mangelnden Schärfe – Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Konzepts. Hinter der indigenistischen Auffassung des sumaq kawsay verbirgt sich einerseits eine abzulehnenden Essenzialisierung: von ihren Vertretern selbst ausgedrückt, mag man sie hinnehmen, aber als politisches Konzept – als progressives gar – kann nicht durchgehen, was Menschen mit ihrer Kultur gleichsetzt, ja „Kultur“ an sich als verteidigungs- und schützenswert annimmt. Zugleich drückt der Begriff eine Unmöglichkeit aus, wenn er bedeutet, indigene Lebensweisen gegen die kapitalistische Moderne zu verteidigen. Außer in Fällen extremer Isolation (wie bei den von der Außenwelt isolierten Sentinelesen, die jüngst für Aufsehen sorgten) ist dies schlicht unmöglich, da die kapitalistische Produktionsweise ihrer inneren Tendenz nach globale Ausdehnung anstrebt. Nicht kapitalistische organisierte Gesellschaften existieren nur, wenn der Kapitalismus global überwunden wird.
Betrachtet man die staatssozialistischen Konzeptionen, so fallen Einwände noch leichter. Die Rede vom „buen vivir“ findet sich hier beinahe gänzlich zur rhetorischen Figur reduziert. In keinem der Länder, in denen es Verfassungsrang erreicht hat, ist die kapitalistische Ausbeutung der natürlichen Ressourcen zurückgegangen. Wie auch? Staat und Kapital sind untrennbar verknüpft. Der Eingang des „buen vivir“ in das Repertoire politischer Floskeln lateinamerikanischer Staatslenker entspricht dem regionalen Dilemma, dass alle linken Regierungen unterschiedlich drastische antikapitalistische Rhetorik an den Tag legten, während sie zugleich völlig bruchlos auf hochintensive Ausbeutung von Primärgütern setzten, etwa Öl, Soja oder Minen.
Schließlich ist die Post-Development-Variante des „buen vivir“ in sich so heterogen und inkohärent, dass eine einheitliche Kritik schwerfällt. Innerhalb der zahllosen Ideen bezüglich einer Welt „jenseits des Wachstums“ erfüllt „buen vivir“ die Funktion eines vagen Konzeptes, das als Gegenstück zum modernen Entwicklungsbegriff dient und diesen ablösen soll. Es geht um soziale Partizipation und eine Abkehr vom Wachstumsparadigma. Der Bezug auf den indigenen Ursprung der Idee findet meist nur noch in Form einer romantisierenden Essenzialisierung statt. Auch hier bleibt die Frage, wie die wolkigen Hoffnungen einer solchen Welt umgesetzt werden sollen, ohne an die Substanz des Kapitalverhältnisses zu gehen.
So auseinanderklamüsert, bleibt vom „buen vivir“ wenig übrig. Den Begriff als entweder leer oder falsch zurückzuweisen, heißt aber nicht, Angriffe auf Indigene oder intensivierte kapitalistische Ausbeutung gutzuheißen. Ganz im Gegenteil, „leere Signifikanten“ sind Hindernisse im Kampf für eine Welt der Freien und Gleichen, da sie Widersprüche überdecken und Möglichkeiten des Widersprechens einebnen.
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