Wie sieht Feminismus in Marokko aus? Lamyaâ Achary ist eine der bekanntesten Aktivistinnen des Landes. Damit macht sie sich nicht nur Freunde.
der Freitag: Frau Achary, der Feminismus wird oft dafür kritisiert, zu weiß und zu westlich zu sein ...
Lamyaâ Achary: Ja, natürlich ist er das. Aber das ist das Interessante am Feminismus. Er stellt die Frage: Wie kann man sich Theorien aneignen und sie anpassen, um zu analysieren und zu kritisieren, was in unseren jeweiligen Kontexten geschieht? Vielleicht ist das jetzt aber etwas abstrakt. Könnten Sie ein Beispiel nennen?
Sagen wir: die Kopftuchdebatte.
Was weiße Feministinnen da oft vergessen, ist, dass sie nicht das Recht haben, darüber zu sprechen. Dafür haben sie keine Legitimität, denn sie kommen nicht aus diesen Kulturen. Die Frauen, die darüber sprechen und diskutieren sollten, sind eher die aus muslimischen Kontexten oder jene, die selber ein Kopftuch tragen. Ich finde auch, dass die Frage des Kopftuchs diskutiert wird, als sei sie das Wichtigste. Dabei gibt es doch Themen, die wichtiger und interessanter sind.
Verträgt sich der Islam denn mit Feminismus?
Auch hier sage ich: Es ist komplex. Für mich persönlich spielt der Islam keine Rolle. Ich werde keine religiösen Argumente benutzen, da ich so nicht denke. Aber das heißt nicht, dass Islam und Feminismus per se ein Widerspruch sein müssen. Ich glaube sogar, dass es sehr interessant sein kann, die Debatte zu nutzen, um einen islamischen Feminismus zu schaffen. Religionen können auf viele verschiedene Arten interpretiert werden – und der Islam wurde bisher ausschließlich von Männern interpretiert. Das heißt, wenn es Frauen gibt, die das in die Hand nehmen, und ihn feministisch interpretieren, finde ich das gut.
Was ist wichtiger zu bekämpfen, der Kapitalismus oder das Patriarchat?
Beide, denn sie sind miteinander verknüpft. María Galindo, eine Feministin, die ich sehr mag, hat gesagt: Man kann nicht entpatriarchalisieren, ohne zu entkolonialisieren. Und Kolonialisierung heißt hier auch: neoliberale und postkoloniale Verbindungen.
Zur Person
Lamyaâ Achary, 28, promoviert an der Universität Hassan II in Casablanca in Sozialwissenschaften. Die Mitbegründerin der Bewegung „Woman Choufouch“ bezeichnet sich als Anarcho-Feministin
Foto: Privat
Sie sind also Antikapitalistin?
Ich würde mich als Anarcho-Feministin bezeichnen.
Und trotzdem finden Sie, Feminismus und Islam schließen sich nicht aus? Anarchismus und Religion, das ist ja eher eine konfliktbehaftete Beziehung.
Natürlich. Aber wenn es feministische Bewegungen gibt, die eine Neuinterpretation des Korans machen – warum nicht? Ich bin nicht da, um zu sagen: Was ihr macht, ist scheiße, denn ich bin Anarcho-Feministin und kenne die absolute Wahrheit. Das stört mich bei vielen anderen.
Wie wurden Sie zur Feministin?
Dadurch, dass mir das weibliche Geschlecht zugewiesen wurde, habe ich von klein auf erfahren, was Diskriminierung bedeutet. Das Patriarchat hat dafür gesorgt, dass ich sehr schnell gemerkt habe, dass es ein Problem gibt. Den Begriff Feminismus habe ich später entdeckt. An der Universität habe ich angefangen, viel darüber zu lesen.
Welche Autoren haben Sie am meisten geprägt?
Einerseits natürlich Judith Butler und dann Paul Beatriz Preciado, den ich sehr bewundere. Das ist ein spanischer Trans-Philosoph. Über diese beiden habe ich besonders viel nachgedacht.
Wie reagierte Ihr Umfeld darauf, dass Sie zur Feministin wurden?
Es war nie ein Problem, über solche Fragen zu sprechen. Ich habe das Glück, Eltern zu haben, die studieren konnten. Somit hatte ich auch das Glück, eine kleine Bibliothek zu Hause zu haben, und meine Eltern lesen zu sehen. Ich konnte immer mit ihnen diskutieren. Ich würde nicht sagen, sie sind Intellektuelle, aber sie sind stets offen für Analyse, Konversation, Austausch.
Sie waren eine der Protagonistinnen von „Woman Choufouch“. Was war das?
Woman Choufouch war eine Bewegung, die im Sommer 2011 gegründet wurde. Es war die Idee einer guten Freundin von mir, die die Nase voll hatte von Belästigungen im öffentlichen Raum. Also hat sie eines Tages diese Facebookseite geschaffen. Das war damals auch vor dem Hintergrund der weltweiten Slutwalk-Bewegung. Daher hieß die Seite zuerst Slutwalk Morocco, bevor sie umbenannt wurde.
Was heißt „Woman Choufouch“?
Das ist ein Wortspiel. Männer, wenn sie Frauen auf der Straße belästigen, sagen oft „menchoufouch“, was so viel heißt wie: „Willst du nicht, dass wir uns treffen?“ Also haben wir das Wortspiel daraus gemacht: Woman Choufouch.
Und warum die Umbenennung?
Weil es arabischsprachige Zeitungen gab, die dachten, es handle sich um eine Sexarbeiterinnen-Bewegung. Sie hatten slut wörtlich genommen. Und außerdem gab es einige Islamisten, die in einer Fatwa dazu aufriefen, uns zu steinigen. Also haben wir gesagt: Die Leute haben es nicht verstanden, wir müssen den Namen ändern. Und ich fand genau das interessant, denn dadurch haben wir ein Konzept übernommen und es an den lokalen Kontext angepasst. Woman Choufouch, damit konnten die Leute etwas anfangen, sich Fragen stellen.
Und was haben Sie dann getan?
Uns ging es vor allem um sexuelle Belästigung. Außerdem hatten wir genug von den alten feministischen Organisationen, die bürokratisch und altmodisch sind. Wir versuchten, Menschen unseres Alters kennenzulernen, Workshops zu veranstalten, über Belästigung zu sprechen, über Vergewaltigung. Wir haben Filme gezeigt. Es war eine schöne Erfahrung. Wir hätten nie gedacht, dass unsere Facebookseite so eine Reichweite erlangen würde. Plötzlich kontaktierten uns Journalisten und Wissenschaftler.
Eine Fatwa, die zur Steinigung aufruft, klingt aber gefährlich ...
Der Islamist, der das gesagt hat, tat das für die Aufmerksamkeit. Er ist verrückt, niemand nimmt ihn ernst. Andere Islamisten haben längst nicht diese Sprache. Und das wollen sie auch gar nicht, denn in Marokko werden sie stark beobachtet. Wer einen Hassdiskurs hat, riskiert Gefängnisstrafen wegen Verherrlichung des Terrorismus oder Gewaltverherrlichung. Der Staat hat kein Interesse daran, er will das Bild eines sicheren Landes wahren. Auch die Zivilgesellschaft reagiert bei so etwas.
Also kein größeres Problem?
Was mir am meisten Angst macht, sind nicht die Islamisten. Das ist die Reaktion der Leute, mit denen ich lebe, in meinem Viertel, meinem Umfeld. Ich weiß, dass, was ich sage, für viele Leute gegen die Sitten verstößt. Und da ist es schon möglich, auf der Straße belästigt zu werden.
Haben Sie ein Beispiel?
Einmal war ich im Fernsehen gewesen und hatte mit einem jungen islamistischen Prediger diskutiert. Er hat eine große Gefolgschaft im Netz. Dass dann im Netz Bilder von mir kursierten und ich beleidigt wurde, wäre mir noch egal gewesen. Aber auf der Straße wurde ich von einer Gruppe Männer umzingelt. Sie begannen, mich überall anzufassen und sagten: „Du redest von Belästigung, wir werden dir zeigen, was Belästigung ist.“ Ich bin entkommen – ich weiß nicht, wie – und bin nur noch gerannt.
Die Schauspielerin Loubna Abidar hat wegen solcher Vorfälle Marokko verlassen. Sie lebt in Frankreich. Befürchten Sie, auch in diese Situation zu geraten?
Ich hoffe nicht. Ich will Marokko nicht verlassen. Daran will ich gar nicht denken.
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