Die Jüdischen Kulturtage gingen im November mit einem Abschlusskonzert in der Synagoge in der Rykestraße in Berlin-Prenzlauer Berg zu Ende. Mehrere hundert Leute sitzen auf Bänken im Saal, um die israelische Soulsängerin Ester Rada zu erleben. Deutschlands größte Synagoge wurde aufwendig illuminiert, es sei der schönste Ort, an dem sie je gespielt habe, sagt Rada während des Konzerts. „Los, kommt vor, tanzt“, ruft sie. Als Zugabe singt sie ein vertontes Gebet, da wird es wieder andächtig.
Unser Gespräch findet am Nachmittag im jüdischen Restaurant Masel Topf statt, das gegenüber der Synagoge liegt. Rada bestellt Tee und antwortet mit akzentgefärbtem Englisch.
der Freitag: Frau Rada, Sie sind in einer orthodoxen Gemeinschaft aufgewachsen – und jetzt eine weltweit gefeierte Sängerin.
Ester Rada: Ich hatte Träume. Ich habe immer gern gesungen. Für mich war Musik ein Ort, an dem ich eine Welt bauen kann, meine Welt. Eine sichere und private Welt. In einem sehr jungen Alter entdeckte ich, dass ich in Menschen Gefühle auslösen kann, wenn ich singe. Dass sie sich öffnen. Dieses Gefühl habe ich geliebt. Ich wusste immer, dass ich Sängerin werden würde.
Als Kind sehr religiöser Eltern war das erst mal nur ein Traum?
Das größte Hindernis war in der Tat, dass ich aus einem religiösen Ort stamme. Für Orthodoxe dürfen Frauen nicht singen. Das brach mir das Herz und brachte mich dazu, über Religion und Gott nachzudenken. Ich fragte mich, wie kann es sein, dass Gott mir ein so schönes Geschenk gibt, aber ich es nicht benutzen darf? In meiner Jugend war ich wütend und der Religion sehr fern, also konnte ich singen und mein Ding machen. Erst später im Leben fand ich auf meine Weise Frieden.
Der Zeitung „Libération“ sagten Sie, Religion sei „ein Gefängnis“ für Sie gewesen.
Habe ich wirklich Gefängnis gesagt? Nun, sie haben strenge Regeln. Ich war noch nie sehr gut mit Regeln. Nicht im Leben, nicht in der Schule, nirgendwo. Ich glaube an die Freiheit für alle. Also wollte ich auch in einer religiösen Gemeinschaft musizieren. Ich glaube an Gott. Nur, mein Gott ist ein anderer Gott. Mein Gott ist Liebe, ist die Verbindung zwischen allen. Mein Gott würde niemals sagen, dass Frauen das Musizieren verboten ist.
Moses, Armeedienst und Soul
Beta Israel (Haus Israel), so nennen sich die äthiopischen Juden, zu denen Ester Rada gehört. Seit mehr als 2.000 Jahren pflegten sie ihren jüdischen Glauben und ihre jüdischen Bräuche. Sie lebten in der entlegenen Bergregion von Gondar, weit entfernt vom Zugriff der im Land herrschenden Dynastien und der tonangebenden Religionen.
Als in Äthiopien Anfang der 1980er Chaos und Hungersnot herrschten, entschloss sich die israelische Regierung, einzugreifen.
In groß angelegten, geheimen Operationen wurden die Juden Äthiopiens, die bereits zu großen Teilen in den Sudan geflohen waren, ausgeflogen. Mit der ersten dieser Aktionen, der Operation Moses, kamen 1984 auch Ester Radas Eltern nach Israel. Ein Jahr später wurde sie geboren. Die Familie lebte zunächst in Kirjat Arba, einer religiösen Siedlung in Judäa und Samaria, in der Nähe von Hebron. Später zog Rada mit ihrer Mutter nach Netanja, ans Meer, in eine bunte, heterogene Stadt, das Tor zur Welt. Da entdeckte sie internationale Musik.
Im israelischen Militär diente sie dann so wie alle anderen. Die 33-Jährige mischt als Sängerin Soul, Funk, Reggae und Pop mit äthiopischem Jazz, manche vergleichen sie sogar mit Nina Simone. 2014 erschien ihr Debütalbum Ester Rada, 2017 folgte Different Eyes.
Ester Rada trat außerdem als Schauspielerin auf, unter anderem in dem Film Ich habe ein Gedicht (Israel,2014).
Wann wurde Ihnen klar, dass Sie Sängerin werden wollen, gab es einen Schlüsselmoment?
Als ich 20 war, ging ich auf eine Reise in die israelische Wüste. Es war eine Nacht, die ich nie vergessen werde. Aus dem absoluten Nichts fand ich alles. In dieser Stille hörte ich mich laut und klar, Gott war in allem präsent. Da habe ich die Kraft der Liebe entdeckt, und seit dieser Nacht versuche ich, sie jeden Tag meines Lebens zu praktizieren und zu leben.
1984 kamen Ihre Eltern nach Israel, ein Jahr später wurden Sie geboren. Wie konnten sie Ihnen ihre Kultur nahebringen?
Ich kann sie gar nicht von außen betrachten, ich bin das. Ich wurde in ein äthiopisches Zuhause mit der Sprache, dem Essen und der Musik hineingeboren. All das wollte ich in meine Musik aufnehmen, weil es ein Teil von mir ist. Vor allem in Israel wollte ich meine Herkunft, meine Kultur mit allen teilen. Weil im Radio kaum äthiopische Musik gespielt wurde, war es mir wichtig, sie mitzubringen.
Welche Musik, welches Essen?
Wir hörten Musik von Mahmud Ahmed und Aster Aweke, Muluken Melese, Zinet. Zu essen gab es oft Injera, das ist das Hauptgericht. Es ist eine Art rundes Pita-Brot. Und darauf kommen dann unterschiedliche Gerichte: Fleisch, Hühnchen oder Fisch oder vegetarisches Essen wie Salat und Gemüse sowie Hummus und Erbsen. Es ist alles sehr scharf und lecker. Mein Lieblingsgericht ist Fitfit-Brot mit gekochtem Sauerrahm und Salat. Ich habe mein Label danach benannt.
Man hört von Diskriminierung: Wie geht es äthiopischen Juden in Israel heute?
Auch in Israel gibt es Leute, die immer noch rassistisch und ungebildet sind. Aber ich sehe mehr Äthiopier in Fernsehen und Radio. Die junge Generation ist stärker am israelischen Leben beteiligt.
Wie sieht dieser Rassismus aus?
Wir hören immer noch von Schulen, die keine äthiopischen Kinder aufnehmen, und von Hausbesitzern, die ihre Häuser nicht an Äthiopier vermieten, auch Polizeibrutalität gegen junge Äthiopier gibt es. Vor drei Jahren kam es in Tel Aviv zu Aufständen, weil ein Video auftauchte, in dem Polizisten einen Soldaten schlugen, nur weil er schwarz war.
Sie tun was, damit es anders wird?
Mein Lied Nanu Ney war der erste äthiopische Song in den Radio-Playlists in Israel. Und ich bin die Moderatorin einer großen Fernsehsendung in der Primetime. Die Vier ist ein Reality-TV-Musikwettbewerb. Ja, ich bin ein Teil dieses Wandels.
Waren Sie mal in Äthiopien?
Ja, letzten Juni war ich als Teil der Delegation des Präsidenten Reuven Rivlin in Addis Abeba. Es war das erste Mal, dass ein israelischer Präsident nach Äthiopien ging.
Er hat Sie einfach mitgenommen?
Ja, sie haben mich angerufen und mich gebeten, sich ihnen anzuschließen, und ich dachte mir: Oh ja! Zum ersten Mal nach Äthiopien! Und dann auch noch die Ehre, mit dem Präsidenten zu kommen! Es war wunderschön. Ich fühlte mich sofort zu Hause. Alle sprachen meine Sprache, alle sahen aus wie ich. Das war unglaublich. Ich habe bei der offiziellen Zeremonie zwei Lieder gesungen, eines auf Hebräisch und eines auf Amharisch. Es war sehr emotional für mich. Ich ging auf den Markt, hatte ein paar Fernseh- und Radiointerviews. Sie kannten meine Musik! Ich war auch in der jüdischen Gemeinde, das war etwas traurig.
Warum?
Sie wollen unbedingt Aliya machen, also nach Israel ausreisen, aber sie stecken fest und haben schlechte Einrichtungen und miserable Lebensbedingungen. Ich bete für sie.
Waren Sie im Dorf Ihrer Eltern?
Nein, es war zu weit. Die Reise war nur für drei Tage, aber ich möchte auf jeden Fall zurückkehren und nach Gonder gehen, wo meine Familie herkommt.
Wo fühlen Sie sich zu Hause?
Zu Hause ist, wo meine Liebe ist, wo meine Lieben sind. Es gibt keinen Ort, an dem ich mich heimischer fühle als in Israel. Aber es war seltsam in Äthiopien ... Ich bin wirklich um die ganze Welt gereist, aber dort hatte ich sofort das Gefühl, ich könnte zu jedermanns Haus gehen, einfach klopfen und „Hallo“ sagen.
Ist Amharisch oder Hebräisch Ihre Muttersprache?
Meine erste Sprache ist Amharisch, weil ich das als kleines Kind sprach. Meine Mutter sagt, ich habe, bis ich sechs war, fließend Amharisch gesprochen und hätte dann gesagt, sie solle nicht mehr mit mir in dieser Sprache reden. Ich glaube, ich wollte nicht anders sein als die anderen Kinder. Meiner Mutter machte das wenig aus, weil es ihr half, Hebräisch zu üben. Wenn ich denke, denke ich auf Hebräisch.
Wie kommt Ihre Mutter in Israel zurecht?
Sie liebt Israel. Sie kam, als sie 20 war. Heute ist sie 53 Jahre alt, lebt also länger in Israel als in Äthiopien. Ich habe sie einmal gefragt, ob sie gerne zurückkehren würde, und sie sagte deutlich Nein! Sie kann nicht einmal daran denken, in ihr Dorfleben zurückzugehen. Obwohl sie wirklich gerne einmal zu Besuch dorthin möchte.
Sie treten im November in Berlin auf, der Zeit des Gedenkens. In Israel ist die Erinnerung an die Schoah Teil der Identität. Viele orientalische und äthiopische Juden haben keinen familiären Bezug.
Ja, aber! Ich wurde in Israel geboren und Israel hat sich aufgrund des Geschehens entwickelt. Also lernen wir es in der Schule. Es ist immer präsent, dass wir verfolgt wurden und jetzt unser Zuhause haben. Alles ist damit verbunden.
Wenn in der israelischen Gesellschaft von „Wir“ die Rede ist, wenn es um die Schoah geht, sind Sie Teil davon?
Es ist ein „Wir“ als Juden. Wie Sie sagten, es ist ein bedeutsames Thema in unserer nationalen Kultur. Ich habe das Gefühl, dass es wichtig ist, sich daran zu erinnern. Aber manchmal tun wir es zu viel. Ich bin glücklich, dass ich ein Land habe, dass wir ein Land haben. Dass wir einen Ort haben, an dem wir uns sicher fühlen können, den wir unsere Heimat nennen können. Wir könnten uns und anderen viel mehr davon geben.
Israelische Künstler klagen oft, dass sie sich in der Welt ständig zum Nahostkonflikt positionieren sollen.
Ja. Es passiert oft, ich bin das gewohnt. In Israel geht es darum, dass ich Äthiopierin bin, in der Jazzwelt darum, dass ich eine Frau bin, und außerhalb von Israel darum, dass ich Israeli bin.
Nervt Sie das?
Nein. Ich bin froh, dass ich all das in mir habe, weil ich andere Menschen besser verstehen kann. Leute anderen Geschlechts, anderer Religion … Ich kann so viele Menschen berühren und inspirieren. Mit meinem Ausgangspunkt hätte ich zu einem Menschen voller Hass und Wut werden können, aber ich wählte das Leben und die Liebe. Ich mag es, ein Beispiel, eine Botschafterin zu sein.
Waren Sie mit Antisemitismus konfrontiert?
Ich weiß nicht, ob das Antisemitismus war, aber mit Aktionen gegen Israelis, ja, sehr oft. Viele Leute kommen zu meiner Show und versuchen, sie zu boykottieren, sie bringen Palästinaflaggen mit.
Sie meinen BDS, die Boykott-Bewegung?
Ja. Aber es ist okay. Es stört mich nicht, wenn eine Palästinaflagge vor mir weht. Ich singe für sie und gebe ihnen Liebe und am Ende der Show tanzen sie mit.
In Deutschland gab es in diesem Sommer eine Debatte um ein Popmusikfestival. Weil die israelische Botschaft sich daran beteiligt hat, rief BDS zum Boykott auf.
Warum?
Sie wollten da keine israelischen Künstler.
Aber wir existieren! Sie können die Ohren schließen und die Augen schließen, aber wir existieren. Es gibt ein Land namens Israel. Und ich bin von dort. Ich wohne in Jaffa und habe viele arabische Nachbarn, die auch Israelis sind. Du kannst mich als Person boykottieren, aber ich bin hier. Wie heißt dieser Mann von Pink Floyd?
Roger Waters.
Genau! Er hat das größte Werkzeug, er hat die Musik! Eine Sprache, die jeder versteht, die so viele Menschen verbinden kann. Und er wählt den Hass. Ich verstehe es wirklich nicht. Komm nach Israel/ Palästina! Bring die Leute zusammen, trenne sie nicht.
Waren Sie mal in den palästinensischen Gebieten?
Nein. Aber wenn sie mich einladen, komme ich sehr gern. Menschen sind Menschen. Es gibt Regierungen, es gibt Leute, die Geld und Krieg wollen. Aber die Menschen wollen leben. Das ist alles.
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