Shoukat Yousaf Zai ist Informationsminister der pakistanischen Provinz Khyber Pakhtunkhwa und als solcher möchte er sich zeitgemäß geben. Weshalb er eine am Freitag abgehaltene Pressekonferenz per Livestream übertragen ließ. Doch wer auch immer diesen einrichtete, machte den Innenminister unfreiwillig berühmt: die eingesetzte Kamera hatte einen Filter aktiviert, der dem Gefilmten mittels Gesichtserkennung rosa Katzenohren und Schnurrhaare verpasste. Das Video ist inzwischen gelöscht worden, doch die Screenshots des verniedlichten Ministers tingeln weiter durchs Internet.
Ein amüsanter Vorgang, sicherlich. Allerdings auch einer, der symptomatisch für eine Entwicklung ist, die Jürgen Habermas, der heute seinen 90. Geburtstag feiert, schon vor über 50 Jahren in seiner Habilitationsschrift versuchte zu beschreiben: den Strukturwandel der Öffentlichkeit. In dem Minister mit den Katzenohren prallen einerseits die von Habermas als konstitutiv ausgemachten Sphären des Privaten (oikos) und des Politischen (polis) aufeinander; der für die private Belustigung gedachte Filter rückt unversehens einen Repräsentanten einer staatlichen Ordnung ins Lächerliche. Andererseits stehen die Mechanismen der Meme-Kultur, die für die Verbreitung der Bilder einer im Weltmaßstab eher unbedeutenden Pressekonferenz sorgten, für eine gigantische Umwälzung in der Funktionsweise der Öffentlichkeit.
Das einst große Lamento des Philosophen, wonach die kritische Öffentlichkeit zugrunde ginge, schien durch das Internet zunächst (noch einmal) widerlegt zu werden. Inzwischen wird aber deutlich, dass das Medium durchaus das Potential hat, diese Sorge zu bestätigen. Wer erfahren will, wie umfassende Vernetzung in einen gigantischen Kontroll- und Unterdrückungsapparat münden kann, muss sich nur das Social Credit System der Volksrepublik China ansehen. Und sollte daraufhin umgehend alle Bonusprogramme der Krankenversicherung ablehnen.
Stabil? Nicht stabil?
Habermas, ein aktueller Denker also? Wer heute als junger Linksradikaler nach intellektuellen Wegweisern in der jüngeren Ideengeschichte sucht, für den hat Habermas leider den intellektuellen Sexappeal eines Schuhkartons. Das gilt nicht nur für die Anhänger diverser mit dem Präfix „post“ ausgestatteter Denkschulen, die sich ohnehin von den Kategorien der Aufklärung ‚Subjekt‘ und ‚Geschichte‘ verabschiedet haben. Für sie ist Habermas theoretisch zu sehr in das alte Denken aus Liberalismus und Marxismus eingebunden – linguistic turn hin oder her. Doch auch jenen, die aus radikaler Perspektive versuchen, an die Kritische Theorie anzuknüpfen, erscheint Habermas in doppeltem Sinne ungeeignet. Sein zwiespältiges Verhältnis zum Marxismus macht ihn gerade im Vergleich zu den frühen Arbeiten seiner Lehrer Horkheimer und Adorno unattraktiv. Seine Verteidigung des Status Quo in Form der liberalen Demokratien und der Europäischen Union macht ihn wiederum zu einem ununterscheidbaren Liberalen.
Wie das aussieht, kann man exemplarisch an einem Facebook-Post der Berliner kommunistischen Gruppe „Theorie Organisation Praxis“ (TOP) begutachten. Dort heißt es anlässlich von Habermas' Geburtstag: „Wenn es drauf ankommt, bist du stabil geblieben. Alles Gute zum Neunzigsten, Jürgen!“ Umgehend fanden sich in den Kommentaren harsche Kritiker ein. „Jürgen ist überhaupt nicht stabil. Jürgen hat kein Problem mit der kapitalistischen Demokratie“, schreibt einer, während ein anderer auf den Band Unkritische Theorie – Gegen Habermas verweist und ein dritter den Philosophen pointiert als „Bernstein der Kritischen Theorie“ tituliert. Nein, Habermas ist kein Linker. Sein Einsatz für eine europäische Verfassung und eine Reform der Sozialdemokratie machen ihn höchstens zu einem klügeren Linksliberalen.
Engagierter öffentlicher Intellektueller
Dennoch könnte man beinahe nostalgisch werden angesichts seines runden Geburtstags. Denn während die deutschsprachige Philosophie akademisch und intellektuell am Boden liegt, ist da ein Jubilar, der sich ein Leben lang für Aufklärung und Moderne stark gemacht hat. Eine Haltung, die gerade in der westlichen Welt unter dem Einfluss eben jener „post“-Denker zunehmend in Verruf geraten ist und die in Deutschland mit seiner Heideggerei ohnehin immer einen schweren Stand hatte. Habermas hat diese Haltung immer auch mit der Verve eines engagierten öffentlichen Intellektuellen vertreten. Man denke nur an seinen Einsatz im Historikerstreit gegen den Revisionisten, Holocaust-Relativierer und Antikommunisten Ernst Nolte.
Figuren wie Habermas zeichnen sich heute weit und breit nicht ab. Wer könnte denn beispielsweise das Malheur des pakistanischen Provinzministers in ein umfassendes theoretisches Modell der Öffentlichkeit eingliedern? Ob das bedauerlich ist – also ein Zeichen intellektueller Armut – oder begrüßenswert als Ausdruck eines Abschieds vom Genie-Kult und einer Demokratisierung des Denkens –, darüber ist zu streiten. Sicher ist allerdings, dass einer wie Richard David Precht, bei dem sich das Prädikat „Philosoph“ nur auf die Ausbildung beziehen kann, in keinerlei Hinsicht Nachfolger von irgendetwas ist. Selbst diejenigen, die sich nach Habermas als Vertreter der institutionalisierten „Frankfurter Schule“ etablierten, insbesondere Axel Honneth, oder Intellektuelle, die unter direktem Einfluss von Habermas stehen wie Oskar Negt, haben ja inzwischen längst ein stattliches Alter erreicht. Gewiss, es gibt auch durchaus theoretisch versierte politische Denker, es sei nur Oliver Nachtwey genannt. Doch vom Format eines Habermas? Es ist zu befürchten, dass mit dem hohen Alter Habermas' auch das deutschsprachige Nachdenken über die Welt seinen Lebensabend erreicht.
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