„Kummeronkel der Alten“

Interview Ja zu Demos, Nein zur Senioren-Isolierung: Hans-Christian Ströbele erhält gerade viel Post
Ausgabe 17/2020

Im Unterschied zu unserem Gespräch vor zwei Jahren über die Geschichte der Apo, das in seinem Büro in Berlin-Tiergarten stattfand (der Freitag 3/2018), muss dieses Interview mit Hans-Christian Ströbele per Telefon geführt werden; Infektionsschutz verpflichtet. Der Jurist und langjährige Grünen-Bundestagsabgeordnete gibt sich, was Grundrechtseinschränkungen wie Versammlungsverbote oder Pläne zur Isolation von Risikogruppen angeht, skeptisch bis kämpferisch..

der Freitag: Herr Ströbele, auf Grundlage des Infektionsschutzgesetzes sind viele Grundrechte gerade stark eingeschränkt. Die Zustimmung in der Bevölkerung ist – noch – sehr hoch. Wie stehen Sie dazu?

Hans-Christian Ströbele: Die sind überwiegend richtig und vernünftig, aber eine Reihe von Verboten ist mir nicht ganz einleuchtend. Ich halte zum Beispiel das Verbot, Messen zu lesen, für verfassungsrechtlich sehr problematisch. Ich habe mit Kirche überhaupt nichts am Hut. Aber warum man nicht in eine große Kirche 50 oder 150 Leute reinlassen kann, um dann mit Abstand eine Messe zu feiern, das will mir nicht in den Kopf.

Ist das nicht eine Veranstaltung in ähnlicher Größenordnung wie beim Lokalsport?

Nein, bei der Messe sitzen die Leute diszipliniert still oder knien und bei der Sportveranstaltung ist Bewegung angesagt und Brüllen und was weiß ich. Das ist bei einer Messe völlig anders. Ich bin auch der Überzeugung, wenn die Kirchen das dem Bundesverfassungsgericht noch mal vorlegen würden, hätten sie Chancen.

Ein weiteres Recht, das stark eingeschränkt ist, ist das der Versammlungsfreiheit. Können Sie das nachvollziehen?

Das kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. Dieses absolute Verbot ist ja inzwischen durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts korrigiert worden. Ich hatte vorher dazu schon getwittert, dass ich es so, in der Absolutheit, in der es praktiziert wird, nicht für verfassungsgemäß halte. Das Demonstrationsrecht ist eines der zentralen und wichtigsten Grundrechte in einer Demokratie. Da werden politische Anliegen formuliert und unter die Leute gebracht – davon lebt eine Demokratie. Natürlich werden Demonstrationen in der Größenordnung und dem engen Zusammengehen, wie sie in der Vergangenheit üblich waren, so derzeit nicht möglich sein. Aber es gibt Varianten, wie man das möglich machen kann.

Man könnte auch argumentieren, in einer Zeit, in der Arbeit, Privatleben und fast alles im Internet stattfindet, gibt es im Internet auch ausreichende Möglichkeiten, seine Meinung kundzutun.

Nein, weil es ja auch viele Menschen gibt, die entweder kein Internet haben oder das jedenfalls nicht jeden Tag benutzen. Nicht jeder ist stundenlang am Bildschirm. Und das ist auch gut so. Es muss die gewohnten Möglichkeiten der Meinungsbildung geben. Dazu gehört, dass Leute sich versammeln, diskutieren, ihre Meinung demonstrieren, auf Plakaten, Transparenten, durch Sprechchöre und Ähnliches.

Zur Person

Foto: Rolf Zoellner/epd/Imago Images

Hans-Christian Ströbele, Jahrgang 1939, war 1969 einer der Gründer des Sozialistischen Anwaltskollektivs. 1985–1987 und 1998–2017 saß er für die die Grünen im Bundestag. 2013 besuchte er Edward Snowden im Exil in Moskau

Vor etwas mehr als 50 Jahren gab es große Proteste in Deutschland, gegen die Notstandsgesetze. In der Art und Weise sind die nie angewandt worden, aber der Notstand kam jetzt auf einem anderen Weg, nämlich über das Infektionsschutzgesetz. Sehen Sie die Gefahren, die damals artikuliert wurden, in Bezug auf das Infektionsschutzgesetz auch?

Ja. Die Gefahr besteht. Das darf nicht Schule machen, etwa weil man meint, dass es so einfach geht. Da ist äußerste Vorsicht am Platze. Aber das, was damals befürchtet worden ist, war ja nicht eine Notsituation aufgrund einer Pandemie. Die großen Befürchtungen richteten sich dagegen, dass die Notstandsgesetze politisch genutzt werden, etwa im Falle von großen Streiks und Massendemonstrationen. Die Verbotsmöglichkeiten könnten also politisch gebraucht und missbraucht werden. Diese Gefahr besteht natürlich grundsätzlich weiter.

Die meisten Einschränkungen sind auf Grundlage der sogenannten Generalklausel im Infektionsschutzgesetz erfolgt. Da ist die Rede von „notwendigen Maßnahmen“. Das klingt nach „Not kennt kein Gebot“. Ein rechtliches Unding, oder?

Das ist völlig richtig. Das hat auch das Bundesverfassungsgericht hervorgehoben. Man darf Verbote von Freiheitsrechten nicht einfach auf eine Generalklausel stützen, sondern jeweils müssen Verfassungsgrundsätze gelten. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zum Beispiel. Das heißt auch, dass zu prüfen ist, ob es nicht Alternativen zu einem Verbot gibt, zum Beispiel Auflagen bei Demonstrationen. Zu sagen, da gibt es nur verbieten, geht nicht. Da macht man es sich zu leicht.

Haben Sie die Befürchtung, die Demokratie könnte langfristig Schaden nehmen?

Bisher nicht, aber ich warne. Wenn es weiterhin allein danach geht, was im Augenblick am praktikabelsten oder als Maßnahme sinnvoll erscheint, ohne zu berücksichtigen, welche wichtigen Grundrechtsgüter dabei außer Kraft gesetzt oder infrage gestellt werden, dann ist das gefährlich. Wenn versucht würde, was öffentlich erwogen wurde, nämlich alle Alten über 65 nur wegen ihres Alters wegzusperren und möglichst in Heime einzuweisen, würde ich schnell vors Bundesverfassungsgericht gehen. Das habe ich ja schon öffentlich angekündigt. Und ich glaube, es gäbe Erfolgschancen.

Den Vorschlag hat unter anderem einer Ihrer Parteikollegen ins Spiel gebracht, Boris Palmer. Was haben Sie gedacht, als Sie davon hörten?

Der ist ja für etwas extravagante Ideen und Vorstellungen, die meiner Ansicht nach mit grünen Grundverständnissen schwer in Übereinstimmung zu bringen sind, immer wieder hervorgetreten. Da ist man ja Kummer gewohnt. Nachdem mein Widerspruch in den Medien war, bin ich zu so einer Art Kummeronkel der Alten avanciert. Ich habe weit über 100 Mails und Briefe von Leuten bekommen, die zustimmen, das dürfe doch wohl nicht wahr sein.

Nehmen Sie die Rolle als Sprachrohr der Alten gerne an?

Ich bin in der Sache ja sehr engagiert und nehme die Aufgabe gerne an. Ich versuche, diese Briefe und Mails alle zu beantworten, um mit den Leuten in der Diskussion zu bleiben. Wenn man anfängt, Generationen gegeneinander auszuspielen, kann das schlimm enden.

Eigentlich hat man ja den Eindruck, dass die Krise eher die Solidarität zwischen den Generationen fördert. Viele junge Leute erledigen Besorgungen für ältere Menschen.

Ja, das ist ganz toll. Ich kann hier nicht vor die Tür gehen, ohne dass ich nicht mindestens ein oder zwei Angebote bekomme, für mich einzukaufen oder sonst zu helfen. Das finde ich natürlich ganz rührend. Aber wenn man zündelt, den Alten einreden will, sie nur zu ihrer eigenen Sicherheit wegzusperren in Heime – nach Medienberichten sind viele geradezu Hotspots der Pandemie –, halte ich das für eine ungeheuerliche Idee.

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