„Lasst mich in Ruhe, das ist ewig her“

Interview Marina Frenk wurde 1986 noch in der Sowjetunion geboren und wuchs im Ruhrpott auf. Heute schreibt sie darüber, was ihr Herkunft und Identität bedeuten
Ausgabe 10/2020

In Berlin ist der Winter wieder reichlich nass und dunkel, doch im Stadtteil Friedrichshain gibt es viele gemütliche Cafés, um ihm zu entfliehen. In einem davon treffe ich Marina Frenk, die hier in der Nähe wohnt. Um uns herum herrscht lauter Feierabendbetrieb.Frenk, die gerade ein Buch veröffentlicht hat, erzählt über das Stimmengewirr hinweg von ihren Werdegang und ihrem Leben als vielseitiger Künstlerin.

der Freitag: Frau Frenk, Ihr Roman sollte ursprünglich „Die Mutter“ heißen. Warum?

Marina Frenk: Weil ich gerade Mutter geworden war, als ich mit dem Schreiben anfing. Tatsächlich ist es so einfach, so naheliegend. Mein Sohn war ein Jahr alt, glaube ich, als ich mit dem Roman anfing. Was sich da in einem wandelt, das hat mich viel beschäftigt. Man kann das Frauenroman nennen, aber es ist so ein wichtiges Thema, es ist Leben. Es ist eine Wandlung, die in einem selbst passiert. Während des Schreibprozesses hat sich mein Blick verändert, es geht jetzt mehr um Zugehörigkeit, Familie und Bindung. Ich habe in einer klaren Gegenwart angefangen, dann habe ich festgestellt, dass die Vergangenheitsebene doch sehr wichtig ist. Ich habe dann in meinem Kopf gewühlt, mich gefragt, wo ich da anfange, ob ich Sachen aus der eigenen Geschichte nehme oder mir etwas ausdenke.

Am Ende war es beides?

Ja, ewig her und gar nicht wahr ist kein ausschließlich biografischer Roman, 50 Prozent sind wahr und 50 Prozent erfunden.

Noch ein Buch über Herkunft und Identität, noch dazu von jemandem aus der Berliner Kulturszene: Warum sollte man das lesen?

Ich frage mich natürlich auch: Neben Sasha Marianna Saltzmann und Saša Stanišić, – jetzt noch so was zu schreiben? Aber es ist irgendwie nicht „so was“. Ich würde nicht sagen, dass es der Migrationsroman schlechthin ist. Darin finden sich auch viele andere Themen, die über das Migrantische hinausgehen. Ich habe nicht versucht, etwas zu kopieren.

Sie haben 2014 in einem wütenden Monolog auf der Bühne des Maxim-Gorki-Theaters Ihre moldawische Herkunft zum Thema gemacht. Es treibt Sie also immer noch um?

Die Familiengeschichte zu erzählen, das hatte damals erst mal den pragmatischen Grund, dass ich vom Gorki beauftragt worden bin. Ich sollte einen Monolog über Moldawien von Nicoleta Esinencu spielen. Darauf habe ich eine Antwort aus eigener Perspektive verfasst, in der dann eben meine eigene Familiengeschichte vorkam. Danach folgte ein Celan-Liederabend und der Wunsch eines Hörspielregisseurs, einen zusammenhängenden Beitrag aus beiden Abenden fürs Radio zu machen. Etwas über Familie und Politik zu schreiben, hat sich für mich also aus dem Alltag ergeben, dem Umgang mit dem Gorki-Theater und den Veränderungen in Deutschland, dem Erstarken der AfD. Außerdem macht es bei einem Debüt immer Sinn, über etwas zu schreiben, das man kennt.

Geboren in einem Land, das es nicht mehr gibt

Zusammenbruch „Moldauische Sozialistische Sowjetrepublik“, so hieß der Staat, in dem Marina Frenk 1986 in eine russisch-jüdische Familie geboren wurde. Der Staat verschwand etwa zeitgleich mit dem Zerfall der Sowjetunion und wurde 1991 durch einen neuen ersetzt.

Frenks Familie verließ die „Republik Moldau“ 1993 in Richtung Bundesrepublik Deutschland. Fortan im Ruhrpott aufgewachsen, studierte sie an der Folkwang Universität der Künste Schauspiel. Von 2013 bis 2015 war sie Ensemblemitglied am Maxim-Gorki-Theater; seitdem ist sie selbstständig. Neben dem Schauspiel ist Marina Frenk außerdem als Musikerin und Sängerin tätig. In verschiedenen Formationen singt sie Russisch und Jiddisch zu Klezmer- und Folkklängen, zum Beispiel mit Daniel Kahn und der Band Disorientalists. Bei der Vorstellung ihres Buches im Roten Salon der Volksbühne Berlin trat sie gemeinsam mit Freunden auf.

Dem Debütroman ging die Arbeit an Hörspielen voraus. Das von Sibylle Berg verfasste Theaterstück Und jetzt: Die Welt! Oder: Es sagt mir nichts, das sogenannte Draußen brachte sie in eine Hörspielfassung, die 2016 den Hörspielpreis der Kriegsblinden erhielt. Das von Frenk selbst verfasste Hörspiel Jenseits der Kastanien, in das Gedichte Paul Celans einflossen, wurde 2017 mit dem CIVIS Radiopreis ausgezeichnet. Von dem Hörspiel überzeugt, kontaktierte sie ihr heutiger Literaturagent. Ihr Debütroman ewig her und gar nicht wahr erschien im Wagenbach-Verlag.

Inwiefern ähnelt Ihnen Kira, die Heldin aus dem Roman?

Sie ist mir gar nicht ähnlich. Es geschehen viele Dinge, die überhaupt nichts mit mir zu tun haben. Da sind Sachen aus meiner Biografie drin, besonders was Herkunftsbezüge angeht, wie das Land, aus dem ich komme. Aber man könnte auch ein anderes Land nehmen und eine ähnliche Geschichte schreiben. Es geht um Erfahrungen, um eine Suche.

Trotzdem, die Protagonistin ist eine Thirtysomething und kam in den Neunzigern in den Ruhrpott, genau wie Sie.

Ja, wir sind 1993 aus Moldawien nach Dortmund emigriert. Da war ich sieben Jahre alt.

Was war der Grund?

Meine Familie ist nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ausgereist. Moldawien wurde unabhängig, es gab wirtschaftliche Umbrüche im Land, ebenso waren Russen nicht mehr erwünscht. Die Staatssprache wurde nun Rumänisch, was keiner aus meiner Familie spricht. Die meisten Unternehmen wurden privatisiert, es gab viel Kriminalität im Land verbunden mit dem Systemwechsel zum Kapitalismus hin. Dazwischen liegen Welten.

Zwischen Moldawien und Europa? Also zwischen Europa und Europa?

Kann man so sehen, ja. Osteuropa ist ja ein sehr schwieriges Gebiet in Europa, weil es nach dem Zerfall der Sowjetunion große wirtschaftliche Krisen und Umstrukturierungen gab. Und Moldawien ist ein Land, über das man zum Teil liest, es sei ein Dritte-Welt-Land. Da liegen eher Welten zwischen Großstädten, wie der Hauptstadt Chişinău, und den Dörfern. Die Dörfer in Moldawien sind fast leer, weil viele Moldawier in europäische Länder gehen, um zu arbeiten, ihre Kinder zurücklassen, die dort alleine in diesen Dörfern monatelang überleben müssen und oft auf Nachbarn angewiesen sind.

Väterlicherseits kommen sowohl die Protagonistin als auch Sie aus einer jüdischen Familie. Welche Rolle spielte das in Ihrer Kindheit?

Mein Vater ist kein gläubiger Jude, kein religiöser. Ich glaube, er kennt keinen einzigen Feiertag. Aber seine Familie, also meine Großeltern sind komplett nach Israel ausgewandert. Deswegen war ich natürlich häufiger in Israel und bin alle paar Jahre dort. Also ja, väterlicherseits ist es eine aus dem jüdischen Städtele entsprungene osteuropäisch-jüdische Familie. Ich bin auch mit jiddischer Musik aufgewachsen, habe von meinen Großeltern Jiddisch gehört. Aber das war nichts Religiöses. Meine Eltern sind Mitte der 50er Jahre geboren und verbrachten einen Großteil ihres Lebens in der Sowjetunion. Dort war Religion eher verpönt. Deswegen war es in der Familie meines Vaters nicht mehr so, dass Traditionen gepflegt wurden.

Was bedeutet „ewig her und gar nicht wahr“?

Es ist ein russisches Sprichwort. Meine Eltern holen zum Beispiel manchmal die nostalgischen Geschichten heraus und dann sage ich: Bitte lasst mich in Ruhe, das ist ewig her und gar nicht wahr. Es ist auf dieses System bezogen, aus dem man scheinbar kommt, aber eben nicht mehr kommt, mit dem man immer wieder von der Familie konfrontiert wird. Und dieser Kampf mit den unterschiedlichen Werten, was richtig ist und was falsch, wie Leben geht und wie Leben nicht geht, wie frei man sein kann und will, das sind große Konflikte, die man ab dem Teenageralter durchmacht.

Mir ist aufgefallen, dass Ihr Name in E-Mails in kyrillischen Lettern angezeigt wird. Weil Ihnen die Muttersprache so wichtig ist?

Das mit dem Namen muss ich mal ändern. Aber ja, das Russische spielt eine große Rolle. Bei vielen, die als Kinder nach Deutschland kommen, verschwindet ihre Sprache irgendwann. Das hängt, glaube ich, davon ab, wie viel den Eltern daran liegt, dass es bleibt. Meinen Eltern lag sehr viel daran. Und natürlich weiß ich: Es gibt einen Beginn meines Lebens, der fand in einer anderen Sprache statt. Das zu verlieren, wäre schizophren. Besonders, dass ich Russisch lesen kann, bedeutet mir viel. Es gibt große russische Literatur. Wenn ich schreibe, höre ich das, was ich auf Deutsch schreibe, im Ohr oft auf Russisch. So kann ich konkreter denken, weiß genauer, was ich sagen will.

Warum schreiben Sie nicht auf Russisch?

Ich müsste es dann übersetzen. Ich kann es natürlich nach Russland schicken, aber ich glaube nicht, dass es dort eine Sau interessiert.

Sie sind Schauspielerin, Musikerin, jetzt Autorin. Wer hat Sie an diese Welten herangeführt?

Ich bin mit Büchern aufgewachsen. Wenn ich so überlege, habe ich als Kind vor allem geschrieben, bevor ich irgendwas anderes gemacht habe. Seit ich schreiben kann, habe ich gerne Geschichten geschrieben. Ich habe viel Klavier gespielt, wollte eigentlich Musik studieren, habe mich dann doch für Theater entschieden, habe es dann an der Schauspielschule versucht und es hat geklappt. Das war der Weg. Besser wusste ich es nicht. Und es hat Spaß gemacht. Das macht’s nach wie vor, aber es hat mir in der ganzen Theatersache etwas gefehlt. Ich glaube, Schauspieler sind hauptsächlich Techniker. Das ist ein ganz konkreter Beruf. Und Schreiben ist viel mehr, die Kunst ist freier.

Woher nehmen Sie die Zeit für all das? Sie haben ein kleines Kind.

Ich habe mich irgendwann selbstständig gemacht, bin aus dem festen Engagement rausgegangen, und seitdem ist das mit der Zeit okay. Dadurch, dass ich verschiedene Sachen mache, verdiene ich trotzdem genug und muss nicht jeden Tag arbeiten.

Die meisten Eltern, gerade in eingewanderten Familien, wünschen sich, dass aus den Kindern etwas Besseres wird. Selten stellen sie sich kreative Berufe vor. Wie war das bei Ihnen?

Ganz ähnlich. Mein Vater ist Ingenieur, meine Mutter Juristin. Das war für sie natürlich eine seltsame Vorstellung, was ich da jetzt vorhabe. Ich habe mich sehr früh an der Schauspielschule beworben, hatte nicht mal die Schule fertig gemacht. Das war dann noch mal härter. Aber als ich angenommen war, haben sie das akzeptiert.

Sie haben keinen Schulabschluss?

Nein, für mich macht das keinen Sinn. Ich war in den meisten Fächern nicht gut, wozu dann ein schlechtes Abitur? Es war mir klar, dass ich Schauspiel machen möchte, und es hat geklappt.

Wo fing das mit dem Theater an, im Ruhrgebiet?

Es gab in Dortmund ein Laientheater, da haben wir richtige Vorstellungen gespielt. Dadurch habe ich kleinere Rollen bekommen. Ich dachte: Ich kann hier am besten alle Künste verbinden. Irgendwann war das nicht mehr so. Schreiben kannst du als Schauspieler nicht. Aber im Moment war es richtig.

Vor drei Jahren erhielt Ihr Hörspiel „Jenseits der Kastanien“ den CIVIS Radiopreis. Darin setzten Sie sich anhand der Gedichte von Paul Celan mit Ihrer Herkunft auseinander. Ihrem Roman ist ein Zitat vorangestellt: „Schwerer werden, leichter sein. “ Was bedeutet der Dichter für Sie?

Celan lag mir schon immer am Herzen, seit ich ihn mit 15 entdeckt habe. Ich hatte einen Gedichtband von ihm. Zu den ersten Gedichten, die ich las, gehörten Drüben, woraus die Zeile „Jenseits der Kastanien“ stammt, und die Todesfuge. Das hat mich fasziniert. Seine jüdische Herkunft war mir zwar bekannt, aber mir ist erst viel später aufgefallen, dass er nach dem Krieg weiterhin auf Deutsch geschrieben hat. Nach dem, was er erlebt hatte, nachdem seine Eltern tot waren! Das war ja das Drama seines Lebens, das er in allen seinen Gedichten verarbeitet hat, auf eine so eigensinnige Art und Weise. So hat keiner über den Holocaust und seine Folgen geschrieben. Er war gebrochen und trotzdem ein genialer Poet. Der liegt mir einfach nahe, dieser Celan. Als mein Sohn geboren wurde, der auch Paul heißt, haben wir eine Karte von einem guten Freund bekommen, mit einer Fotografie von Paul Celan, auf der stand: „Schwerer werden, leichter sein.“ Dieser Satz hat mich in unserem ganzen Familiendasein sehr beschäftigt.

Sie gehören einer anderen Generation an, können sich aussuchen, wie Sie leben. Wie empfinden Sie das mit Blick auf Ihre Familie?

Die Vorfahren der Romanfigur Kira Liberman haben Krieg und Verfolgung erlebt, sie hingegen „nur“ Emigration, Unbeständigkeit, Veränderung, finanzielle Unsicherheit. Dann kam die Arbeitslosigkeit, Ankunft in einem neuen Land, die neue Sprache. Daher rührt ihre Verlorenheit und die Suche nach Stabilität. Sie ist gefangen in der Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Gegenwart. Ich nehme mein Leben in Deutschland als sehr friedlich wahr, ich habe die Möglichkeit, Kunst zu machen, mich zu verwirklichen. Ich kann reisen, Familie haben. Die Instabilität meiner Vorfahren ist in meinem Alltag kein Thema mehr.

Was wollen Sie Ihrem Sohn vermitteln?

Ich möchte die Werte weitergeben, die ich mir im Umgang mit anderen Menschen wünsche. Er soll ein respektvoller Mensch sein, der sich traut, seine Gedanken zu äußern und selbst zu entscheiden, was mit seinem Leben passieren soll. Irgendwann, wenn er älter ist, will ich ihm Moldawien zeigen.

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