Mao mit Mohammed

Kampfbegriff In Frankreich wird über „islamo-gauchisme“ gestritten. Wofür steht dieses Reizwort?
Ausgabe 11/2021

Stéphane Dorin ist froh, dass es vorbei ist. Vor wenigen Wochen hat der französische Musiksoziologe vor Gericht gegen seinen Arbeitgeber, die Universität von Limoges, gewonnen. Damit wurde sein Ausschluss aus einer Forschergruppe aufgehoben und das Verfahren wegen Rufschädigung eingestellt. Hinter ihm liegen über zwei Jahre juristischer Auseinandersetzung, Attacken in sozialen Netzwerken, Konflikte mit Kollegen. „Es war die Hölle“, sagt er. Dennoch bereut Dorin nicht, dass er im November 2017 Kritik geäußert hat. Damals sollte Houria Bouteldja auf einer Veranstaltung an seiner Universität sprechen. Bouteldja ist Sprecherin der Parti des Indigènes de la République, einer sich als antirassistisch und antikolonial verstehenden Partei. Insofern mag es nicht verwundern, dass die Einladung von Philippe Colin ausgesprochen wurde, einem Experten für dekoloniale Theorien.

Doch Bouteldja ist der Auffassung, Hamas und Hisbollah seien „Widerstandsbewegungen“ gegen den „israelischen Kolonialismus“. Es kursiert ein Foto, auf dem sie lächelnd neben der Aufschrift „Die Zionisten ins Gulag“ posiert, den Hamas-Gründer Ahmad Yasin bezeichnete sie als „Antikolonialisten“, dessen Kampf man sich anzuschließen habe. Bouteldja werden außerdem immer wieder Rassismus (Affirmation eines anti-weißen Rassismus als Widerstand) und Homophobie („Es gibt keine Homosexuellen im Iran“) vorgeworfen.

„Für mich war es selbstverständlich, dass so jemand nichts in einem Hörsaal verloren hat“, sagt Dorin. Aber fast niemand wollte ihm beispringen. „Ich stieß auf Schweigen bei den meisten meiner Kollegen“, erzählt er. Deshalb schrieb er einen offenen Brief und trat damit eine Debatte los. Es folgten Beschuldigungen, Shitstorms und der Versuch der Universität, Dorin auszuschließen.

Wissenschaft und Aktivismus

Obschon die Causa Dorin über zwei Jahre zurückliegt, wird sie wieder oft in der französischen Presse zitiert. Denn sie passt gut zu einem Schlagwort, das seit einigen Monaten vermehrt durch die Medien tingelt: „islamo-gauchisme“, etwa „Islam-Linke“, wobei der holprigen Übersetzung der bereits dem Begriff „gauchisme“ anhaftende abwertende Klang abhandenkommt. „Islamo-gauchisme“, das klingt nach einer Allianz von Mao und Mohammed, also ist es kein Wunder, dass der Begriff die Gemüter erhitzt. Für die einen bezeichnet er ein grassierendes Phänomen, das die Werte der Republik untergräbt, für die anderen ist es ein aggressiver Kampfbegriff, dessen Verwendung schon als Ausweis extrem rechter Gesinnung gilt. Klar ist nur: Wie vielen Schlagwörtern haftet ihm der Makel der Unbestimmtheit an.

Die Ermordung des Lehrers Samuel Paty löste nicht nur in Frankreich eine Debatte darüber aus, ob der Islamismus immer noch unterschätzt wird – gerade von Linken. Der Bildungsminister Jean-Michel Blanquer sagte im Sender Europe 1: „Das, was man ,islamo-gauchisme‘ nennt, richtet verheerende Schäden in den Universitäten an.“ Dort würden Ideologien verbreitet, die im Grunde zur Gewalt führen. Dem widersprach die Konferenz der Universitätspräsidenten (CPU) mit Nachdruck, woraufhin etwa 100 Forscher:innen dem Minister mit einem Beitrag in Le Monde beisprangen und das Unvermögen vieler Universitäten, den Islamismus als verantwortlich für den Mord an Paty zu bezeichnen, anprangerten.

Im Februar dann meldete sich Frédérique Vidal, die für Hochschulen zuständige Ministerin, zu Wort und sagte im Sender CNews, dass der „,islamo-gauchisme‘ nicht nur die Universitäten“, sondern „die Gesellschaft“ vergifte. Frankreichs renommierteste staatliche Forschungseinrichtung CNRS sah sich veranlasst, in einem Kommuniqué zu erklären, der „islamo-gauchisme“ sei „keine wissenschaftliche Realität“.

Die Ursprünge des Begriffs liegen einigermaßen im Dunkeln. Chris Harman, einst Mitglied des Zentralkomitees der trotzkistischen Socialist Workers Party (SWP) im Vereinigten Königreich, veröffentlichte 1994 den Text The Prophet and the Proletariat. Er untersucht darin den Aufstieg des Islamismus und Möglichkeiten der Linken, sich dazu zu verhalten. Dabei stellt er klar, die Islamisten „are not our allies“; sich umstandslos auf die Seite autoritärer Regime zu stellen, um dem Islamismus beizukommen, sei aber auch nicht die richtige Antwort. Harmans Text mag man diskussionswürdig finden, aber die Lesart, wonach die Linke im Kampf gegen Staat und Kapital gemeinsame Sache mit dem Islamismus machen solle, ist eine dreiste Verkürzung seiner Aussagen. Doch Harman ist so etwas wie der Ur-Strohmann für die Kritiker des „islamo-gauchisme“. So schreibt der Philosoph Pascal Bruckner, Harmans strategische Schlussfolgerung sei „mit den Islamisten manchmal, mit dem Staat niemals“.

In der französischen Debatte tauchte der Begriff erstmals prominent im Jahr 2002 auf, im Buch La nouvelle judéophobie des Philosophen und Soziologen Pierre-André Taguieff. Darin kritisiert er die Linke für ihre Nachsicht gegenüber dem Antisemitismus von sozialen Bewegungen in der „Dritten Welt“. Der Begriff stammt also mitnichten aus dem Umfeld der extremen Rechten. Taguieff stand damals dem sozialistischen Politiker Jean-Pierre Chevènement nahe. Dem Journal du Midi sagte er Ende Februar: „Ich prägte den Begriff zu Beginn der Zweiten Intifada, nach den großen anti-israelischen und pro-palästinensischen Demonstrationen im Oktober 2000.“ Dort habe man eine Allianz zwischen islamistischen Organisationen und linksextremen Gruppen beobachten können. Er beklagt, heute würde der Begriff aufgeweicht verwendet und plädiert für eine klare Definition, gerade auch weil die Linke sich dem „Dekolonialismus“ und einem „Pseudo-Antirassismus“ zugewandt habe, deren deutlichster Ausdruck die Parti des Indigènes sei.

In Dekolonialismus und Postkolonialismus, Intersektionalität, Antirassismus und Gendertheorien glauben die Kritiker des „islamo-gauchisme“ neue Gegner entdeckt zu haben. Ihr Vorwurf lautet im Grunde: Diese Theorien vermischen Wissenschaft und Aktivismus. Sie seien blind gegenüber menschenfeindlichen Auffassungen jener, die sie als „Subalterne“ ausmachen, und sie untergraben somit die Werte des Westens, Freiheit, Universalismus und den Glauben an Geschichte, Subjekt und Fortschritt. Die Gegenseite sieht sich in solchen Angriffen eher bestätigt, denn was sollen das für westliche Werte sein, in deren Namen der Globus kolonial unterworfen wurde und die bis heute dazu dienen, den Herrschaftsanspruch des Westens zu untermauern.

Hahnenkampf im Hörsaal

Dieser Konflikt fällt zusammen mit einer Transformation der Gesellschaft, die auch westliche Universitäten erfasst hat und für die es ein ebenso griffiges Schlagwort gibt: Neoliberalismus. Die Universitäten haben sich sozial geöffnet und wurden politökonomisch umgebaut. Im Fokus steht: Produktivität. Mehr Leistungsdruck plus mehr Anwärter auf Professuren bedeutet allerdings auch: mehr Konkurrenz.

Insofern ist das Hauen und Stechen um Posten im Wissenschaftsbetrieb groß, das gilt auch außerhalb Frankreichs. Und weil die Verhältnisse die Begriffe affizieren, sind die „postmodernen Theorien“ Ausdruck und Instrument in dieser Auseinandersetzung. Als Distinktionsmerkmale dienen sie der eigenen Profilierung und die Denunziation durch Theorie wird zur Denunziation in Konkurrenz. Was auch damit zusammenhängt, dass durch die Grundlagen in der Sprachphilosophie die Arena der politischen Auseinandersetzung vom Klassenkampf in den Diskurs verschoben wurde. Klassenkampf wollen auch die Liberalen nicht. Ihre Kritik, bei der sie die „alten“ Ideale von Wahrheitssuche und Weber’scher Wertfreiheit gegen jene Theorien ins Feld führen, denen sie eine Vermengung von Wissenschaft und Aktivismus vorwerfen, greift zu kurz. Wenn die Soziologin Nathalie Heinich in der NZZ die „republikanischen Werte“ evoziert und von der „französischen Nation“ als einzig relevanter politischer Gemeinschaft spricht, offenbart sie ihre eigene Voreingenommenheit und die Vereinnahmung angeblich liberaler Wissenschaft für das identitätspolitische Projekt, das sich französische Nation nennt.

Neutrale Wissenschaft gibt es nicht. Das heißt nicht, dass es egal ist, was am Ende rauskommt, weil jeder und jede glauben kann, was er oder sie will. Doch durch die soziale und epistemische Öffnung des Wissenschaftsbetriebs und das historische Verschwinden der Marxisten aus den Universitäten ist einem linksliberalen Hahnenkampf das Feld bereitet worden, aus dem die Verdammten dieser Erde jedenfalls nicht als Gewinner hervorgehen.

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