Anders als bei reinem Schauspiel ist es bei Musiktheater, wo Text und Komposition eng ineinandergreifen, schwierig, kurzfristige Änderungen vorzunehmen. Insofern kann man durchaus sagen, dass diese Inszenierung von den Ereignissen überrollt wurde: Im September begannen die Proben für Negar an der Deutschen Oper Berlin, gerade als im Iran Proteste gegen das Regime ausbrachen.
Es ist also klar: Dieses Stück hat mit der jüngsten Revolte nichts zu tun. Und doch hat es sehr viel damit zu tun. Denn es trifft mitten ins Herz mit seinen Fragen nach Freiräumen in einem repressiven System und nach den Wunden, die Jahrzehnte der Gewalt in die Geschichten von Familien und Individuen schlagen.
Für das Musiktheaterstück haben der Komponist Keyvan Chemirani und die F
Keyvan Chemirani und die Film- und Theaterregisseurin Marie-Ève Signeyrole mit ihrem Team junge Menschen in Teheran befragt. Dabei ging es vor allem um Liebe und Sexualität, um Macht und Ohnmacht, also um „Fragen nach dem Leben in der ‚offiziellen‘ und ‚inoffiziellen‘ Welt“ der Stadt, wie Signeyrole es in einem im Programmheft abgedruckten Gespräch ausdrückt.Heraus kam eine filmreife Geschichte: Shirin (Katarina Bradić), die als Kind das Land verlassen hatte, kehrt nach Teheran zurück. Dort trifft sie auf ihre Kindheitsfreunde Aziz (Julian Arsenault) und Negar (Golnar Shahyar), die mit ihren wesentlich jüngeren Geschwistern zusammenleben. Es ist das Jahr 2013, der letzte große Aufstand gegen die Wiederwahl Mahmud Ahmadinedschads liegt gerade vier Jahre zurück. Doch er hat sich, wie all die anderen gescheiterten Erhebungen und die Morde an Oppositionellen, ins kollektive Gedächtnis eingebrannt.Mitten ins Zeitgeschehen hinein geschriebenDoch es hat sich auch eine lebendige Subkultur in Teheran entwickelt, in der sich vor allem Negar herumtreibt. Aziz wiederum ist Filmemacher mit der Angewohnheit, auch im Alltag überall die Kamera draufzuhalten, was bühnentechnisch geschickt per Live-Videotechnik eingesetzt wird, sodass sich Aziz’ Blick gleichzeitig dem des Publikums – das an zwei Seiten des Saales sitzt, sodass in der Mitte gespielt und gesungen wird – annähert.Etwa eine Stunde setzen die fünf sich mit Fragen nach Herkunft und Identität auseinander, was es bedeutet, Iraner:in zu sein, was es bedeutet, das Land verlassen zu haben, was es bedeutet, Europäer:in zu sein. Doch langsam tun sich Konflikte auf und in der zweiten Stunde kippt die Stimmung. Ein unglückliches Liebesdreieck, eine lesbische Romanze zwischen Shirin und Negar und schließlich der unvermeidbare Verrat stürzen die Familie ins Unglück – Verhaftung, Folter, Untergang.Es ist eine erschütternde Geschichte, nicht weil sie wahr ist, sondern weil sie wahr sein könnte – nicht umsonst bezeichnet Signeyrole sie auch als „conte documentaire“, als dokumentarische Erzählung.Das Publikum ist bewegt. Doch angesichts der Lage im Iran erscheint es müßig, an dieses Stück Maßstäbe der Kritik anzulegen. Für gewöhnlich würde man nun Kleinigkeiten aufspießen – wie die Tatsache, dass sich nicht erschließt, warum das Stück Negar heißt und nicht Shirin – oder zum Beispiel bemängeln, dass die Handlung nicht sonderlich originell ist. Doch das Leben in einer Diktatur ist eben nicht sehr originell. Man kann diesem Stück schlecht vorwerfen, dass es mitten hinein ins Zeitgeschehen geschrieben wurde.Anders gesagt: Was sind die Worte eines Kritikers gegen die Schlagstöcke der Sittenpolizei? Das scheint auch das Publikum zu spüren, das am Ende zu großen Teilen aufsteht und lange, sehr lange applaudiert. Wem genau? Dem Ensemble und seiner Inszenierung? Oder der Freiheitsbewegung im Iran, wo jeden Tag zahllose Menschen ihr Leben dafür riskieren, dass solche Geschichten endlich wirklich Fiktion werden?