Ödipus aus Marzahn

Bühne Ersan Mondtag dampft am Berliner Maxim-Gorki-Theater Sophokles’ Thebanische Trilogie auf 90 Minuten ein
Ausgabe 08/2017

Was passiert, wenn man die Überzeichnung eines Tim-Burton-Films, den Gruselfaktor der Zombieserie The Walking Dead und die Aufmachung der Komikerin Cindy aus Marzahn auf eine griechische Tragödie loslässt? Und wenn diese sich dann nicht nur auf die Form, sondern auch auf Inhalt und Niveau niederschlagen?

Wenige Tage vor der Premiere war noch der Titel geändert worden: Aus Antigone und Ödipus wurde Ödipus und Antigone. Der Vatermörder und König im Bett seiner Mutter nahm sodann auch fast allen Platz ein. In der aus Sophokles’ Thebanischer Trilogie kompilierten Textfassung von Ersan Mondtag und Aljoscha Begrich wirkte Antigones Part wie notdürftig drangeklebt. Auch König Ödipus musste darunter leiden. In einem großen Trara aus Geschrei und penetrant selbstironischem Pathos verbrennt Regisseur Ersan Mondtag den Stoff. Zu groß, zu grell, zu dick aufgetragen, fast alles ist too much an dieser Inszenierung. Einzig Kostüm und Maske gelingt die Gratwanderung zwischen Überzeichnung und Klamauk. Die Schauspieler brillieren, doch es hilft nichts. Ödipus (Benny Claessens) verkommt zur hermaphroditen Drama-Queen, die Bewohner Thebens zu plärrend-sabbernden Wahnsinnigen. Die zurückhaltende Darstellung des Kreon (Aram Tafreshian) als schwächlicher, führungsunwilliger Alter wird da zur Wohltat.

Zur Seite gefegt

Eine Frage dient der Inszenierung als roter Faden: Wie konntest du nur? Laios, Ödipus, Antigone, Bürger Thebens, Eteokles und Polyneikes – wie konntet ihr nur? So viele Leute, und nur 90 Minuten Zeit. Kein Wunder, dass alle anderen Fragen zu kurz kommen. Die politischen Pointen verpuffen als Lacher. Eine ernste Botschaft wird nicht deutlicher, wenn sie dem Publikum hysterisch ins Gesicht gebrüllt wird. Da hilft auch Hölderlins sprachgewaltige Übersetzung nichts. Die Dialoge der Zwillinge Eteokles und Polyneikes, die durch die Besetzung mit den israelischen Schauspielern Orit Nahmias und Yousef Sweid eine Brücke ins Heute schlagen, zu Nahostkonflikt und Flüchtlingskrise, zeigen zwar den guten Willen und Ansatz, werden jedoch alsbald zur Seite gefegt.

Die Verfremdungsmomente werden zu erdrücktem Beiwerk. Der Pathos, der sich pausenlos selbstironisierend aufzuheben versucht, wird peinlich gar. So entsteht ein magentagetünchtes postbrechtsches Klamauktheater. Da liegt Ödipus und verendet, röhrend wie eine kalbende Kuh, und das Publikum lacht laut. Nur die verzweifelte Ismene (Çiğdem Teke), die beschreibt, wie Ödipus sich das Augenlicht löscht, erzeugt den an dieser Stelle so ersehnten bewegenden Moment. Ihr „Finsternis sei um den Blinden, der bei Licht nicht sah, was offensichtlich war“ geht durch Mark und Bein, und der Zuschauer denkt: endlich.

Als Antigone ihren toten Bruder gesetzeswidrig beerdigt und gen Theben zieht, gerät die Szene zur Gruselkomödie, eines Low-Budget-Hollywood-Films aus den 60ern würdig. Im ambitionierten Projekt, die Thebanische Trilogie auf 90 Minuten einzudampfen, geht der Tragödie ihre Essenz verloren. Von der Peripetie bleibt nur das Unglück, die Anagnorisis schnurrt auf Ödipus’ Klage „Ungeheuer ist vieles, nichts ungeheurer als der Mensch“ zusammen. Die Katharsis kommt erst, als der Vorhang fällt. Verhaltener Applaus ist der Dank. Ersan Mondtag, wie konnten Sie nur?

Info

Ödipus und Antigone Regie: Ersan Mondtag Maxim-Gorki-Theater, Berlin

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Geschrieben von

Leander F. Badura

Redakteur Kultur (Freier Mitarbeiter)

Leander F. Badura kam 2017 als Praktikant im Rahmen seines Studiums der Angewandten Politikwissenschaft in Freiburg und Aix-en-Provence zum Freitag, wo er bis 2019 blieb. Nach einem Studium der Lateinamerikastudien in Berlin und in den letzten Zügen des Studiums der Europäischen Literaturen übernahm er 2022 im Kultur-Ressort die Verantwortung für alle Themen rund ums Theater. Des Weiteren beschäftigt er sich mit Literatur, Theorie, Antisemitismus und Lateinamerika. Er schreibt außerdem regelmäßig für die Jungle World.

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