Pest oder Cholera

Argentinien Die Ära Kirchner geht zu Ende, ein neues Staatsoberhaupt muss her. Doch ein Blick auf die beiden aussichtsreichsten Kandidaten zeigt: Es kann nur abwärts gehen.

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Pest oder Cholera

Foto: ALEJANDRO PAGNI/AFP/Getty Images

Vor ein paar Jahren sagte mir ein argentinischer Bekannter, dass das politisch-ökonomische Leben in Argentinien in etwa zehnjährigen Zyklen verlaufe: Irgendein*e Präsident*in mache einige Jahre lang sein Ding und danach stürze alles zusammen wie ein Kartenhaus. Und tatsächlich sieht es so aus: Nach dem Ende der Militärdiktatur 1983 ging es unter Raúl Alfonsín zunächst aufwärts – bis er 1989 im Zuge einer Wirtschaftskrise zurücktreten musste (dass diese auch dem desaströsen Erbe der Diktatur geschuldet war, sei mal dahingestellt). Der Neoliberale Peronist Carlos Menem folgte, mit ihm Privatisierungen und die Eins-zu-Eins-Koppelung des Pesos an den Dollar – ein auf Pump erkaufter Aufschwung, der in dem Bankrott von 2001 gipfelte und mehr als die Hälfte der Bevölkerung unter die Armutsgrenze katapultierte. Auferstanden aus Ruinen erstand schließlich der Kirchnerismus. Mit nur 22% der Stimmen wurde Néstor Kirchner 2003 Präsident, weil der wieder angetretene Menem nicht in die Stichwahl wollte – der Beginn einer Ära, die an diesem Sonntag mit dem Ende der zweiten Amtszeit seiner Frau Cristina Fernández de Kirchner zu Ende geht. Der ursprüngliche, angebliche Plan, ihn wieder antreten zu lassen und so die Ära zu verlängern ging nicht auf – Néstor Kirchner starb 2010 an einem Herzinfarkt. Die Aufarbeitung der Diktatur, protektionistische Maßnahmen zur Förderung der nationalen Industrie, der Kampf gegen das Medienmonopol des Clarín-Konzerns und vor allem groß aufgelegte Sozialprogramme haben Argentinien in vielen Bereichen vorangebracht aber auch Probleme geschaffen – und so das Land gespalten. Vereinfacht sieht das so aus: Die Unterschicht und die Intellektuellen auf der Seite des pathetisch-liebevoll „Proyecto Nacional y Popular“ genannten Kurses der Regierung, während die wohlhabende Mittelschicht, die Oberschicht und die Unternehmer*Innen Kirchner Stimmenkauf, autoritären Stil und eine schädigende Wirtschaftspolitik vorwerfen. Man ist entweder „K“ oder „Anti-K“, dazwischen scheint es selten etwas zu geben. Nun bestimmen etwa 32 Millionen eingetragene Wähler*Innen – so viele wie noch nie – wer das Land in die Post-Kirchner-Ära führt. Natürlich versucht der Frente para la Victoria (Front für den Sieg), Kirchners Wahlallianz aus Linksperonist*Innen, Humanist*Innen, Sozialdemokrat*Innen und Kommunist*Innen, das „Projekt“ zu retten. Daniel Scioli, seit 2007 Gouverneur der Provinz Buenos Aires, soll das schaffen. Aussichtsreichster Konkurrent ist der konservativ-neoliberale Bürgermeister der Stadt Buenos Aires, Mauricio Macri. Der einstige Hoffnungsträger einiger Oppositioneller, der Peronist Sergio Massa, gibt zwar nicht auf, bleibt jedoch hinter Macri zurück. Abgeschlagen sind das trotzkistische Bündnis „Frente de Izquierda“ (Linksfront) mit dem Kandidaten Nicolás del Caño, sowie die sozialdemokratischen „Progresistas“ um Margarita Stolbizer und der 7-Tage-Präsident aus der Krisenzeit, Adolfo Rodriguez Saá. Somit wird die Wahl zwischen dem regierenden Linksperonismus und der konservativen Opposition ausgetragen, Scioli vs. Macri. Doch wer sind diese Männer und was würde es bedeuten, wenn sie Präsident Argentiniens würden?

Daniel Scioli. Berühmt wurde der Mann durch Motorbootrennen, wobei er einen Arm verlor. Nach dem Ende seiner Karriere ging er in die Politik und wurde Peronist – auf Einladung Menems. Seine Karriere war steil: 1997 Abgeordneter, wurde er 2003 von Néstor Kirchner zum Vizepräsidenten gemacht. 2007 wurde er dann Gouverneur der bevölkerungsreichsten Provinz des Landes, Buenos Aires. Die Tatsache, dass er zwar Ziehsohn Menems ist (der inzwischen so verhasst ist, dass manche seinen Namen gar nicht mehr aussprechen wollen – wohlfeil vergessend, dass der Mann für seine Politik gewählt wurde) aber dann problemlos die Kehrtwende der peronistischen Partido Justicialista unter Néstor Kirchner mitmachte, lässt ihn als Opportunisten erscheinen. Und tatsächlich scheint er sich stets alle Möglichkeiten offen zu halten: In den letzten Jahren hat er immer wieder gezeigt, dass er sich von den Kirchners unabhängig fühlt und sich 2011 einen „unabhängigen Peronisten der Mitte“ genannt. Seine Politik als Gouverneur ähnelt der Kirchners auf nationaler Ebene: Investitionen in Infrastruktur, Sozialprogramme, Wohnungsbau, Stärkung der Bürgerrechte. Doch auch die Kritik weht aus der gleichen Richtung: Die Infrastrukturprojekte seien Augenwischerei, es kommt nach wie vor praktisch jährlich zu schweren Überschwemmungen, die Wohnungen würden von den „negros“, (ein rassistisch-klassistischer Begriff zur Beschreibung der Unterschicht) sofort wieder in „villas“, also Slums verwandelt. Die Sozialprogramme würden Stimmen kaufen und – einer der größten Vorwürfe, die dem Kichnerismus überall gemacht wird – die Kriminalität steigt.
Ein weiteres Problem Sciolis ist ebenfalls eines des Kirchnerismus allgemein: Korruptionsvorwürfe und Anschuldigungen, sehr kreativ mit der Demokratie umzugehen. Angeblich habe sich das Vermögen Kirchners während ihres Mandats vervielfacht, es spuken Geschichten herum, falsche Wahlzettel würden verteilt, um die Stimmen der Opposition ungültig zu machen, in öffentlichen Schulen würde es Indoktrinierungen geben, Menschen würden gekauft, um auf regierungstreue Demonstrationen zu gehen. Wieviel hiervon auf Kirchners, wieviel auf Sciolis Konto geht – und was überhaupt wahr ist – ist unklar. Sicher ist nur die Unsicherheit: Niemand weiß, was Scioli vorhat. Seine Unterstützung fußt vor allem darauf, dass seine Vorgängerin ihn als Kronprinzen auserkoren hat. Ob er ihren Kurs fortführen wird, ob es bald einen Sciolismus gibt oder ob er der Last des Erbes, das vor allem aus einer Menge geschönter Probleme besteht, nicht standhalten wird, das wissen auch seine Anhänger*Innen nicht.

Mauricio Macri. Der Mann ist Unternehmer, was ihn per se für viele schon suspekt macht. Pluspunkt für viele: Er war Präsident des beliebten Fußballclubs Boca Juniors. Gänzlich unbefleckt von den peronistischen Pirouetten gründete er einfach seine eigene Partei: die konservative Propuesta Republicana (PRO; in etwa: Republikanischer Vorschlag). 2007 wurde er dann Bürgermeister der Stadt Buenos Aires, pulsierendes Herz der eigentlichen föderal organisierten Republik. Seit langem hegt er Ambitionen auf das Präsidentenamt, baute sich jedoch erst über Jahre durch geschickte Allianzen, vor allem mit dissidenten Rechtsperonisten, eine Machtbasis über die Stadt hinaus auf. Nun ist er aussichtsreichster Kandidat der rechten, konservativen und rechtsliberalen Kräfte des Landes. Seine Amtszeit war geprägt von Infrastrukturprojekten: Der Ausbau des U-Bahn-Netzes, die Einführung von Schnellbuslinien, wofür er sogar das Antlitz des Wahrzeichens der Stadt, der Avenida 9 de Julio, nachhaltig veränderte, haben tatsächlich für einige Verbesserungen versorgt. Dass die U-Bahnen so häufig außer Betrieb sind wird wahlweise ihm, wahlweise der Bundesregierung zugeschrieben. In diesem Zusammenhang wurde ihm vorgeworfen, vor allem seinen Unternehmerfreunden Aufträge zu beschaffen. Die Einrichtung einer stadteigenen Polizei, der Policía Metropolitana, sorgte ebenfalls für ein ambivalentes Echo: für die einen stärkt sie die Unabhängigkeit der Stadt, die bis dato von der Bundespolizei abgedeckt wurde, und verbessert die Verbrechensbekämpfung, anderen gilt sie vor allem als sein persönlicher Repressionsapparat. Trotz dieser Neuerung im Sicherheitsapparat nimmt auch in der Hauptstadt die Kriminalität zu. Während seiner Amtszeit kam es zu Besetzungen von Schulen durch Schüler*Innen, die gegen seine Bildungspolitik protestierten und er bekam es immer wieder mit der Justiz zu tun. Einer der Vorwürfe: Finanzierung seines Wahlkampfs durch ein Netz aus Menschenhandel und Prostitution.

Es erscheint wie die sprichwörtliche Wahl zwischen Pest und Cholera. Ob der undurchsichtige Scioli oder der dubiose Macri – was auch immer die Argentinier*Innen diesen Sonntag wählen, der Kirchnerismus wird vermutlich zusammenfallen wie ein Kartenhaus. Zeit wird’s, immerhin sind schon zwölf Jahre vergangen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Leander F. Badura

Redakteur Kultur (Freier Mitarbeiter)

Leander F. Badura kam 2017 als Praktikant im Rahmen seines Studiums der Angewandten Politikwissenschaft in Freiburg und Aix-en-Provence zum Freitag, wo er bis 2019 blieb. Nach einem Studium der Lateinamerikastudien in Berlin und in den letzten Zügen des Studiums der Europäischen Literaturen übernahm er 2022 im Kultur-Ressort die Verantwortung für alle Themen rund ums Theater. Des Weiteren beschäftigt er sich mit Literatur, Theorie, Antisemitismus und Lateinamerika. Er schreibt außerdem regelmäßig für die Jungle World.

Leander F. Badura

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