Pirmasens ringt ums kulturelle Erbe: War Hugo Ball Antisemit?
Hugo-Ball-Preis Im pfälzischen Pirmasens ringt man ums kulturelle Erbe. Hugo Ball, der berühmteste Sohn der Stadt, war Antisemit? Eine von Hito Steyerl initiierte Podiumdiskussion brachte Antworten
Hugo Ball ist wütend. Im Sommer 1914 war er euphorischer Kriegsbefürworter, und wie dankt es ihm das Vaterland? Indem es seine ganze Generation zu Verbrechern macht. Davon will er freikommen, sich freischreiben. Der für untauglich Erklärte geht in die Schweiz, begründet im Zürcher Cabaret Voltaire mit anderen den Dadaismus, wirft dem dann „schlimmste Bourgeoisie“ vor und beginnt für die Berner Freie Zeitung seine Wut in Polemiken gegen Deutschland zu verwandeln. Und er schreibt ein Buch, das die ganze Angelegenheit noch höher hängt: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Hinterm preußischen Obrigkeitsstaat sieht der katholische Renegat Ball die protestantische Unterwürfigkeit. Doch darunter liege eine weitere Schicht: das Ju
itere Schicht: das Judentum. Und zwar eine „Konspiration der protestantischen mit der jüdischen Theologie (seit Luther) und eine Konspiration beider mit dem preussischen Gewaltsstaat (seit Hegel)“.Über 100 Jahre später liest die Künstlerin Hito Steyerl Balls Buch – und ist überrascht. Denn die Stadt Pirmasens will ihr den Hugo-Ball-Preis verleihen. In Pirmasens wurde Ball 1886 geboren, der seit 1990 verliehene Preis ist ein wichtiges Aushängeschild der Stadt. Doch Steyerl hat schon vergangenes Jahr in der Documenta-Debatte gezeigt, dass sie Antisemitismus ernst nimmt. In Kassel ließ sie ihre Werke abbauen.In Primasens wollte Steyerl nun lieber eine Podiumsdiskussion statt einer Preisverleihung. Und so kommt es: Am Montag versammelten sich Wissenschaftler:innen in der Pirmasenser Festhalle, um die Causa Ball zu diskutieren. Und tatsächlich wird der Abend so etwas wie ein Lehrstück über den Umgang mit einem kulturellen Erbe, durch das sich der Judenhass zieht wie feine Erzadern durch Gestein: Klopft man ein bisschen drauf, tauchen sie überall auf.Einfach ein typischer Vertreter seiner Zeit?Gerade deswegen sei alles halb so wild, legt der Literaturwissenschaftler Helmuth Kiesel vor. Ball sei nicht schlimmer als andere zu jener Zeit, die entsprechenden Passagen machten einen verschwindend kleinen Teil seines Gesamtwerks aus, und überhaupt, antisemitische Stellen gebe es ja auch bei Schiller, Goethe, Fontane, Thomas Mann – und sogar bei jüdischen Autoren.So einfach es Kiesel sich damit macht, entsteht durch seine Einlassungen wenigstens Reibung. Denn die anderen sind sich im Grunde einig: Ja, die entsprechenden Stellen sind klar antisemitisch. Doch wie genau sie zu bewerten sind, in Bezug auf die Zeit und auf Balls Gesamtwerk, darüber gehen die Auffassungen auseinander.So hält Susanne Urban von RIAS Hessen, einer Meldestelle für antisemitische Vorfälle, Kiesel entgegen, „auch wenn es nur zwei Zeilen wären, aus Worten können Taten werden“. Solche Zusammenhänge sind freilich selten eindeutig herzustellen. Die Attentäter, die 1922 Walter Rathenau ermordeten, brauchten zur Motivation nicht Balls Invektiven gegen den Mann, dem er die Organisation der Kriegsindustrie vorwarf. Doch dass er dabei Rathenaus Judentum gegen ihn wendete, situiert ihn eben in einem Diskurs, der nicht nur den Mord an Rathenau zeitigte.Besonders hilfreich sind die historischen Einordnungen Magnus Brechtkens vom Münchner Institut für Zeitgeschichte, der einen kurzen Abriss der Geschichte des Antisemitismus seit Mitte des 19. Jahrhunderts referiert und feststellt, dass Balls Text „ganz eindeutig“ in diese Tradition der Welterklärung gehört. Johannes Heil von der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg drückt es pointiert aus: Ball „operiert virtuos mit der Klaviatur der antisemitischen Begriffswelt“, weshalb auch der Versuch Bernd Wackers, Vorsitzender der Hugo-Ball-Gesellschaft, die Kritik zur Religionskritik zu verharmlosen, fehlgeht. Es ist eben ein Unterschied, ob man vom „Judentum“ oder vom „Juden“ schreibt, wie Ball es wiederholt macht.Die Zukunft des Hugo-Ball-PreisesAnsonsten erweisen sich Wackers Ausführungen allerdings als entscheidend. Ja, Ball war zu jener Zeit Antisemit, aber er habe versucht, sich davon zu lösen. Im Zuge seiner Reversion zum Katholizismus habe er sich erneut mit dem Alten Testament beschäftigt und im Tagebuch notiert, dass er seine Äußerungen über Juden bedaure und „viel gut zu machen“ habe. Doch ehe es zu friedlich wird, wendet Urban ein, auch die 1923 erschienene Schrift Byzantinisches Christentum sei von einem Experten als eine „Mischung aus Philo- und Antisemitismus“ bezeichnet worden.Doch nach zwei Stunden bemerkenswert zivilisierter Diskussion, bei der die Teilnehmenden tatsächlich auf Argumente eingehen, bleibt die entscheidende Frage ungeklärt: Und nun? Die Stadt Pirmasens werde den Preis jedenfalls nicht abschaffen, versichert Oberbürgermeister Markus Zwick (CDU). Aber er solle eine „Chance“ sein, ein „Zeichen gegen Antisemitismus und Rassismus“ zu setzen. So weit, so vage.Das Entscheidende an diesem Abend ist jedoch, dass sich eine Stadt, für die der berühmte Sohn eine Identifikationsfigur ist, der Trauerarbeit gestellt hat, die nötig ist, wenn Idole stürzen. Gelungen ist auch, Wissen, das in Expertenkreisen längst vorlag, zugänglicher zu machen. Sodass vielleicht Steyerls Wunsch in Erfüllung geht, dass zukünftige Preisträger nicht „nachts beim Googeln über solche Textstellen stolpern.“ Sondern über die Aufnahme dieser Podiumsdiskussion.
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