Tritt man durch den Vorhang, vorbei an dem kleinen Schild mit der Triggerwarnung, überkommen einen sofort Schock und Ekel. Ein Menschenknäuel – nein, ein Leiberknäuel, unkenntlich entmenschlicht – hängt da; es ist eine unscharfe Fotografie, aber die Grausamkeit ist unverkennbar. Was folgt, ist nicht weniger bestialisch. Nackte Haut, entblößte Geschlechtsteile, Blutlachen, Wunden, aschgraue Leichenantlitze, kurzum: entsetzlich geschundene Menschen. Und dazwischen immer wieder: triumphierend grinsende, posierende, den Daumen nach oben reckende Soldatinnen und Soldaten.
Diese Bilder hat der französische Künstler Jean-Jacques Lebel großformatig auf Stoffbahnen gedruckt. Als Labyrinth angeordnet, werden sie im Rahmen der Berlin Biennale im
iennale im dortigen Museum für Gegenwartskunst Hamburger Bahnhof ausgestellt. Es sind keine unbekannten Bilder. Sie stammen aus dem Gefängnis Abu Ghraib im Irak, wurden 2004 öffentlich und sind Beweise für die grausigen Kriegsverbrechen der Vereinigten Staaten im Irakkrieg.Lebels Poison soluble („Lösliches Gift“) betiteltes Werk hat Empörung hervorgerufen. Es tue nichts anderes, als die menschenfeindliche Taktik der USA zu reproduzieren, schreibt die irakische Künstlerin Rijin Sahakian in einem offenen Brief. Die Biennale kommodifiziere die Fotos und zeige sie ohne Zustimmung der Opfer.Es ist in der Tat bemerkenswert, wie viele der in den vergangenen Jahrzehnten geführten kritischen Diskurse über die Möglichkeit der Darstellung von Gewalt Lebel mit seiner Installation übergeht. Er stellt die Bilder ja nicht nur ohne die Zustimmung der abgebildeten Opfer aus, sie sind selbstredend auch ohne deren Zustimmung entstanden. Es handelt sich um Täterbilder, die explizit dazu angefertigt wurden, die Entmenschlichung der irakischen Gegner der USA festzuhalten und fortzuschreiben.Aus genau diesem Grund ist man in vielen Shoah-Museen dazu übergegangen, keine Fotos mehr von Erschießungen, Demütigungen, abgemagerten Leibern und Leichenbergen zu zeigen. Häufig sind auch diese von Tätern angefertigt worden. Auch in der Pädagogik kommen sie völlig zu Recht immer seltener zum Einsatz.Abu Ghraib ist nicht Auschwitz, aber die Folterbilder stellen die Kunst vor dasselbe Problem. Diese hat im 20. Jahrhundert ja nicht nur endgültig und unwiderruflich ihre Unschuld verloren. Zugleich hat sie sich in dem Maße, in dem sie sich in den letzten Jahrhunderten aus der formalen und dogmatischen Strenge gelöst hat, neue Bereiche der Darstellung und des Darstellbaren erobert. Außerdem fand eine Explosion der Möglichkeiten der Dokumentation der Realität statt. Formal wurde also alles darstellbar, doch inhaltlich wurde das Undarstellbare umso mächtiger. Insofern hat gerade der Wegfall der Grenze zwischen Kunst und Dokumentation seine Tücken. Anders gesagt: Warum arbeitet Lebel als Künstler und nicht als Referent einer UN-Kommission für Kriegsverbrechen?Eine solche ließ Romeo Castellucci vor ein paar Wochen im Stadion von Vitrolles in Südfrankreich aufmarschieren. Der Regisseur hat bei seiner szenischen Inszenierung von Gustav Mahlers 2. Sinfonie im Rahmen des Opernfestivals von Aix-en-Provence einen Haufen Erde auskippen lassen, in dem ein Schimmel im Vorbeigehen ein Massengrab entdeckt. In der Folge werden während der Aufführung Plastikleichen ausgegraben und in mit dem UN-Logo versehenen Fahrzeugen verstaut.Castellucci hat nicht wie Lebel reales Leid reproduziert. Doch die Inszenierung will authentisch wirken, er verfolgt letztlich ein ähnliches Projekt der Vereindeutigung. Mahlers Sinfonie lässt freilich keinen Zweifel an ihrem Thema: Tod und Auferstehung. Doch die Kraft der Musik liegt ja gerade im Unbildlichen, sie spricht für sich. Man kann dieses Werk nicht hören, ohne zu erschauern. Castellucci reduziert sie zum Soundtrack eines Massengrabs.Ideologische VereindeutigungKunst hatte immer ein gespanntes Verhältnis zum Bild und zum Bilderverbot. Ihr kultischer Ursprung zeugt davon genauso wie der Kampf um die Abstraktion im Zuge ihrer Befreiung. Ein Mittel, das zur Kenntlichmachung des Unzeigbaren dienen kann, wie das nicht zu Unrecht so berühmte Bild Guernica von Picasso zeigt: die Gewalt der Bombardierung der baskischen Stadt kann hier ahnbar werden, ohne die Opfer zu zeigen und somit zu erniedrigen.Offenbar hat die Befreiung der Kunst in einem dialektischen Umschlag nicht nur zur Eventisierung, sondern auch zur ideologischen Vereindeutigung geführt. Gerade bei der politischen Kunst der Gegenwart, von der es bei der Berlin Biennale nicht zu knapp zu sehen gibt, kann man dies beobachten. Viele dieser Werke haben vor allem appellativen oder dokumentarischen Charakter. Sie kommen kaum noch ohne begleitende Texte aus, die nicht nur erklären, was zu sehen ist und wie das Material aufbereitet wurde, sondern auch, was darüber zu denken ist.Sowohl die plumpe Reproduktion als auch das Bedürfnis nach bloßer Verbildlichung der Musik unterlaufen schließlich die Hoffnung, die von einem Kunstbegriff ausgeht, der über das Dokumentarische und das Illustrierende hinausgeht. Nämlich, und gerade das ist Mahler so gut gelungen, einen Vorschein auf die Erlösung zu bieten. Gerade weil in Bezug auf die Erlösung das Bilderverbot greift, kann die moderne Kunst (auch die post- oder spätmoderne) in ihrer Freiheit Wege finden. Sie muss nur wollen.