Tanzstunde

Biografie Friedrich Pollock war Fabrikantensohn, Kommunist und Vordenker der Kritischen Theorie
Ausgabe 13/2020

Im Winter 1910 erreicht den 16-jährigen Sohn eines jüdischen Fabrikanten in Stuttgart ein Brief, der ihn einlädt, an einer Tanzstunde teilzunehmen. Der Junge muss überredet werden, und zunächst ist ihm der Einladende unsympathisch. Erst nach einer Weile werden die beiden Freunde. Ihre Namen: Max Horkheimer und Friedrich Pollock. Der Tanz, zu dem Horkheimer damals einlud, sollte mit seinem von nun an besten Freund Pollock ein Leben lang andauern.

Max Horkheimer wurde zum Giganten der Philosophie. Neben ihm und Theodor W. Adorno stehen noch weithin bekannte Denker wie Herbert Marcuse und Walter Benjamin. Doch schon Leo Löwenthal und Franz Neumann, ebenfalls Denker der Kritischen Theorie, sind eher Interessierten ein Begriff. Glücklicherweise hat sich die Forschung in den letzten Jahren zunehmend darauf verlegt, auch jene in den Blick zu nehmen, die eher als Männer und Frauen des Hintergrunds galten. So wurde zum Beispiel das Leben Felix Weils, der als Erbe eines argentinischen Getreidemillionärs das Institut finanzierte, von Jeanette Erazo Heufelder aufgeschrieben.

Schuld an Benjamins Tod?

Nun richtet der Historiker Philipp Lenhard den Blick auf Friedrich Pollock. Eine erstaunliche Figur oder, wie es treffend in der Verlagsankündigung heißt: „Ein Fabrikantensohn, der das Privateigentum abschaffen wollte; ein Jude, der vom Judentum nichts wissen wollte; ein Professor, der wenig publizierte; ein Ökonom, der sich an der Börse verzockte; ein Kommunist, der den Marxismus für anachronistisch hielt.“

Lenhard entwirft das Porträt eines Mannes, der durchaus das Zeug zum großen Denker hatte, auf eigenen Entschluss hin jedoch zur „grauen Eminenz“ wurde. Die Freunde Fritz und Max entwarfen früh eine Art Freundschaftsvertrag, der im Lauf der Zeit immer wieder neu gefasst wurde und stets die Grundlage für beider Zusammenleben und -arbeit blieb. Dieser erstaunlich kühle Ansatz, eine Freundschaft handzuhaben, entsprang dabei einem lebensphilosophischen Impuls, und schon damals war das Ziel der beiden späteren Marxisten, die „Solidarität aller Menschen“ zu schaffen.

Auf tragische Art bekam dieser Wunsch eine sehr reale Probe. Es ist bekannt, dass es nicht zuletzt Pollocks Verdienst war, dass das Institut frühzeitig Vorbereitungen fürs Exil traf. Gemeinsam mit Weil rettete er das Vermögen. Das nutzte er, um von den USA aus anderen Bedrängten zu helfen. Damit ging eine schwere moralische Last einher: Ob jemand mehr oder weniger Unterstützung bekam, konnte über Leben und Tod entscheiden. Ein Dilemma, dessen Pollock sich bewusst war und mit dem er behutsam umging. In diesem Zusammenhang entkräftet Lenhard auch den von Hannah Arendt in die Welt gesetzten Vorwurf, Pollock und seine Kollegen hätten eine Mitschuld am Freitod Walter Benjamins, da sie ihn nicht ausreichend unterstützt hätten. Lenhard ist zudem Herausgeber der Gesammelten Werke, veröffentlicht im linkskommunistischen Ça Ira Verlag in Freiburg. Ein Umstand, der ihm gestattet, nicht nur der Frage nachzugehen, wer Friedrich Pollock war, sondern auch, wie er dachte. Er betrachtet dessen Promotion zur Geldtheorie Karl Marx’ ebenso wie seine Beiträge zu dem intellektuellen Beben, das alle Denker der Kritischen Theorie im Exil erfasste. Zunächst unfähig, den Nationalsozialismus theoretisch zu fassen und zu erklären; unfähig auch, dem Antisemitismus die theoretische Aufmerksamkeit zu widmen, die ihm zusteht; ratlos angesichts des Versagens der organisierten Arbeiterklasse mussten die vom Marxismus kommenden Denker eine ungeheure Leistung erbringen. „In den Marx’schen Begriffen stimmt etwas nicht. Man muss herausfinden, was das ist. Das soll aber nicht heißen, dass man die Brücken hinter sich abbricht. Es handelt sich darum, die vorhandene Theorie auszubauen“, zitiert Lenhard aus Pollocks Nachlass.

Einen Ausbau der vorhandenen Theorie, das betrieb Pollock im Bereich, der seiner war. Sein Leben lang dachte er über die Möglichkeit einer Wirtschaftsweise nach, deren Ziel die umfassende Bedürfnisbefriedigung sei, sprich: Planwirtschaft. Dass das sowjetische Modell nicht taugte, davon war er überzeugt. Konsequenterweise sah er nach dem Zweiten Weltkrieg die Kriegswirtschaft in eine Art von geplanter Friedenswirtschaft übergehen. New Deal, der Aufbau des Sozialstaats in Europa, Sozialisierungsdebatten bis weit ins bürgerliche Lager hinein – Pollock ging gar so weit, dem „Staatskapitalismus“ zuzutrauen, die Bedürfnisse der Menschen tatsächlich umfassend befriedigen zu können.

Dass es sich bei der Einbindung breiter Bevölkerungsteile in den sozialdemokratischen Korporatismus um ein zeitlich und räumlich begrenztes Phänomen handelte, ist mit einem Blick in den Globalen Süden und nach 40 Jahren Neoliberalismus offensichtlich. Von erstaunlicher Aktualität ist indes Pollocks Theorie der Automation. Angesichts des sich abzeichnenden Computerzeitalters sah er das Heraufziehen einer neuen Produktionsweise, in der menschliche Arbeit nicht mehr nötig ist – bei gleichzeitiger Bedürfnisbefriedigung aller Menschen. Dass dieser Roboterkommunismus trotzdem nicht in absehbarer Zeit Realität werden wird, hängt damit zusammen, dass die Revolution der Roboter (so der Titel eines Sammelbands von 1956, in dem ein Beitrag Pollocks erschien) auf kapitalistischer Grundlage stattfindet.

Anhand des Lebens des Friedrich Pollock entsteht zudem das Bild einer untergegangenen Welt: die der linken Intellektuellen der Weimarer Republik, die außerordentlich häufig Juden waren. Wie sehr sie fehlen, das zeigt auch diese faszinierende Biografie.

Info

Friedrich Pollock: Die graue Eminenz der Frankfurter Schule Philipp Lenhard Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2019 382 S., 32 €

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