Am Ende kommt die unfreiwillige Pointe. Von der leeren Bühne ruft Shakespeares Königin in Hamlet vom Band: „Mehr Inhalt, weniger Rhetorik!“ Die Übersetzung ist eigensinnig, meist wird „art“ mit „Kunst“ wiedergegeben, nicht mit „Rhetorik“. Aber so hallt der Aufruf dreifach nach: Was hat man da gesehen in den vergangenen 18 Tagen Theatertreffen? Inhalt? Kunst? Oder nur Rhetorik?
Die diesjährige Ausgabe des wichtigsten deutschsprachigen Theaterfestivals stand unter besonderer Beobachtung. Fraglich war nicht zuletzt, ob das Publikum ebenso zaghaft kommen würde wie vergangenes Jahr, als die ganze Branche unter Corona-Kater litt und Publikumsschwund beklagte. In dieser Hinsicht kann Entwarnung gegeben werden: Dieses Jahr war
orona-Kater litt und Publikumsschwund beklagte. In dieser Hinsicht kann Entwarnung gegeben werden: Dieses Jahr waren die meisten Aufführungen wieder im Nu ausverkauft, über 19.000 Besucher:innen kamen.Das erhöht die Legitimation des Theatertreffens in seiner Form, die jüngst infrage gestellt wurde. Äußerungen des neuen Intendanten der Berliner Festspiele, Matthias Pees, ließen vergangenes Jahr befürchten, der Kern des Festivals stehe zur Disposition. Das Theatertreffen ist kein kuratiertes Festival, sondern eins der Kritiker:innen. Sieben von ihnen reisen als Jury ein Jahr durch die deutschsprachigen Länder und wählen zehn Inszenierungen aus, die nach Berlin eingeladen werden. Obschon das Kriterium ist, dass die Stücke „bemerkenswert“ sein sollen, gilt die Auswahl als Top Ten der deutschsprachigen Theaterwelt.Wer schafft hier wen ab?Die Wahl eines vierköpfigen Kuratorinnen-Teams als Leitung des Theatertreffens, die Abschaffung des neuer Dramatik gewidmeten Stückemarkts und die Ankündigung, sich thematisch auf Zentral- und Osteuropa zu fokussieren, hatten unter den Fans des Theatertreffens für Ohrenschlackern gesorgt. Man befürchtete eine weitere Entmachtung der Theaterkritik und eine Versenkung des Festivals in der Bedeutungslosigkeit.Im Interview mit der Süddeutschen Zeitung hat Pees nun zu Beginn des Festivals bekräftigt, dass er am Markenkern des Festivals, der Kritiker:innen-Jury, festhalten will. Die neue thematische Ausrichtung beschränkte sich vor allem auf die neue Sparte der „10 Treffen“, wo Diskussionen und Performances von Künstler:innen aus Zentral- und Osteuropa zu sehen waren.Also doch nichts faul im Staate Theatertreffen? Nicht ganz. „So schafft man sich bald ab“, titelt der Tagesspiegel, die Süddeutsche Zeitung spricht von „Selbstverzwergung“. Ausgerechnet die Kritiker:innen sind nun unzufrieden. Die 10er-Auswahl sei schlecht, die „10 Treffen“ wirkten wie ein Parallelfestival, das mehr der Subvention osteuropäischer Künstler:innen und antiimperialistischem Agitprop diene, statt das Festival diskursiv und ästhetisch zu ergänzen und zu erweitern. Wenig Inhalt also, zu viel Rhetorik. Tatsächlich war die 10er-Auswahl so, dass man bisweilen das Bedürfnis hatte, das Wort „bemerkenswert“ im Duden nachzuschlagen. Was etwa an der Über- und Umschreibung von Henrik Ibsens Nora so besonders sein soll, bleibt ein Geheimnis der Jury. Die Inszenierung der Münchner Kammerspiele zeichnete sich vor allem dadurch aus, dass drei Autorinnen Texte geschrieben hatten, die den Stoff ergänzen sollten. Die wurden notdürftig an die Vorlage gepappt und fertig war die etwas plumpe feministisch-antiklassistische Aneignung des Klassikers.Cholera? Klingt wie Corona!Enttäuschend war auch die realistische Inszenierung von Maxim Gorkis Kinder der Sonne vom Schauspielhaus Bochum. Hier schlurften die Darsteller 1 Stunde 45 Minuten durch ein bürgerliches Dekor, und am Ende war nur klar: Cholera, das klingt ja fast wie Corona – zumindest wenn man so nuschelt. Umso irritierender, dass Juror Edgar Selge den diesjährigen Alfred-Kerr-Preis an einen der Darsteller dieses Abends vergab, an Dominik Dos-Reis.Zum Theater gehört freilich, dass Publikum und Kritik getrennter Meinung sind. Das war der Fall bei der Eröffnungsinszenierung Das Vermächtnis (The Inheritance) vom Münchner Residenztheater. Kitsch und Realismus des Broadway-Stücks über das kulturelle Gedächtnis der schwulen Community vor dem Hintergrund der Aids-Katastrophe stießen bei der Kritik auf Ablehnung, das Publikum bedachte die Premiere mit stehenden Ovationen. Dass die Verpackung politischer Themen in eine lineare Erzählung mit in der Tat bemerkenswerter schauspielerischer Leistung den Geschmack des Publikums trifft, sollte an den Debatten über das Gegenwartstheater indes nicht vorbeigehen.Genauso wenig wie die Tatsache, dass zwei Shakespeare-Inszenierungen zu den Highlights gehörten. Der vom Theater Basel eingeladene Sommernachtstraum sorgte für Jubel beim Publikum, der vom Anhaltischen Theater Dessau kommende Hamlet gehörte zum konzeptionell Interessantesten, was es zu sehen gab. Auch wenn der Loop, in den die Geschichte eine halbe Stunde vor Schluss schaltete, beim Publikum für reichlich Irritationen sorgte – wer blieb, jubelte auch hier.Auffällig war indes die ästhetische Diversität der eingeladenen Inszenierungen. Klassisches Erzählen und Performance-Spektakel, Adaptionen und Werktreue, neue Texte und Klassiker – das Theater zeigte sich vielleicht nicht sehr innovativ, aber doch lebendig und künstlerisch vielfältig. Und das sind doch gute Neuigkeiten.