Vielleicht feige

Ostukraine Der Held in „Internat“ sah sich nie Nachrichten an. Nun holt der Krieg ihn ein
Ausgabe 13/2018

Was tust du, wenn du zu lange nichts getan hast? Wenn du dich verkrochen, rausgehalten, nie interessiert hast? Du lieber keine Fragen gestellt hast und nicht wissen wolltest, was um dich herum geschieht? Du einfach dein Leben gelebt hast, ein einfaches, ehrliches Leben; mit deiner Familie, das heißt, mit denen, die davon übrig sind; in deiner Siedlung, das heißt, in dem, was davon noch geblieben ist, nachdem die Geschichte die Welt deiner Eltern abgewickelt hat. Was tust du, wenn dann plötzlich die Geschichte über dir einbricht, die Welt sich ihren Tribut holt für die Kompromisse der Vergangenheit, die dich – so glaubtest du – doch nie betrafen? Wenn im Artilleriefeuer der „Anderen“ deine heile Welt untergeht, deren jahrelangen Verfall du stets ignoriert hast – ignorieren konntest, bis jetzt. Bis die Anderen kamen, bis es plötzlich nicht mehr egal war, wer du bist und wo du stehst; bis selbst deine ehrliche Arbeit als Lehrer zum Politikum wurde.

Kaputte, kalte Klinke

Ach, wärst du nur in den Zug gestiegen und davongefahren. Da, an der Station. Wie deine Schwester, die Nachtzugschaffnerin. Oder wie der Nachbar, dessen Haus – die andere Seite eurer Doppelhaushälfte – irgendwann abbrannte. Doch stattdessen habt ihr die Wand einfach weiß getüncht. Und weitergemacht. Bis die Züge nicht mehr fuhren. Nur noch Panzer. Hättest du nur die Nachrichten gesehen, die sich der Alte den tristen langen Tag über reinzieht, dann wüsstest du, wie es um deine Welt bestellt ist. Sie ist ein Trümmerfeld, in jedem denkbaren Sinne. Dein Leben ist hin, deine Stadt ist hin – die ganze Geschichte ist hin. Alles hinüber, und dich hat es nie interessiert. Oh, Pascha, was tust du nur, wenn du zu lange nichts getan hast?

Denn jetzt, plötzlich, findest du dich zwischen Trümmern wieder. Hetzt durch die Ruinen deiner Stadt, die die Soldaten den Anderen überlassen haben. Die Front rollt über dich, und Panzer schleichen wie schmutzige Köter durch die Stadt, die du kaum noch wiedererkennst.

Ja, Pascha hat Probleme, denn er lebt im Osten der Ukraine, und dort herrscht Krieg. Pascha ist Lehrer, und bisher ging es immer gut, Soldaten – egal, für wen sie kämpften – störte er nicht. Dass er Ukrainisch unterrichtet, ein ganz und gar unneutrales Fach, verschwieg er gewiss. Doch vor allem sieht er nie Nachrichten. Weshalb er auch nur dunkel ahnt, was draußen los ist, als er sich aufmacht, seinen Neffen – den Sohn seiner Schwester, der Nachtzugschaffnerin, die mit den Anfällen des Kindes nie zurechtkam – abzuholen. Im Internat, auf der anderen Seite der namenlosen Stadt.

Eine Stadt, die eine Wüste ist, eine menschenleere Mondlandschaft, in der sich die Übriggebliebenen, die Verlorenen, die Letzten die kaputte, kalte Klinke in die Hand geben, auf ihrem Weg, den niemand versteht, Hauptsache weg, Hauptsache irgendwohin. Zum Beispiel zum Bahnhof, wo natürlich längst nichts mehr fährt, wo zuerst die einen die Kontrolle haben und dann die anderen, und es kommen nur immer mehr „temporär Binnenvertriebene“.

Dies ist kein Kriegsroman, obschon er im Krieg spielt. Sein Protagonist ist kein Soldat, kein Kämpfer, sondern ein Invalide, vielleicht sogar ein Feigling; jedenfalls hält sein Neffe Sascha ihn für einen. Und nicht nur der. Doch ein Feigling mit einer Mission, die ihn verändert. Es ist diese Veränderung, der die Erzählung folgt und die binnen drei Tagen vonstattengeht. Drei Tage, in denen Pascha die Stadt eigentlich nur zweimal durchquert. Tod, Gewalt, Zerstörung, das lang Verdrängte bestürmt ihn nun in allen Formen: Der tote Funker im Minenfeld, dessen Empfänger immer pünktlich im Wald zu hören ist; die verlassenen Häuser und zerbombten Straßen; die blut- und dreckverschmierten Soldaten – die einen fliehen, die anderen nehmen ein –; der Turnlehrer, von dem lediglich ein Mantel bleibt – oder ist es ein Geist? Die Welt, die nur als apokalyptisch bezeichnet werden kann, drängt an Pascha heran, und ohne dass er es merkt, wird er in Verantwortung gebracht.

Es ist vor allem die Sprache, von der dieser Roman lebt. Dicht, eindringlich, klar – aber nicht penetrant, nicht pathetisch. Der Protagonist wird ehrlich gezeigt, aber niemals lächerlich gemacht – eine Frage steht wie ein Messer auf seiner Brust: „Einheimischer? Warum kämpfst du nicht?“ Aber Pascha hat sich ja nie dafür interessiert. „Fuck, ein Lehrer“ ist die zunächst treffendste Charakterisierung. Und irgendwann ernennt sich dieser Lehrer zum „Vertreter der Öffentlichkeit“.

Schlaf doch, Kalaschnikow

Kleine, feine ironische Spitzen zollen der Unmöglichkeit, dem Ernst mit Ernst zu begegnen, Tribut: „Checkpoints werden abgebaut, aber die Grammatikregeln bleiben.“ Dann diese Bilder: „Von außen sieht das Haus aus wie ein halbes Brot auf dem Regal im Laden.“ Ein Soldat trägt „die Kalaschnikow im Arm wie einen Säugling, der einfach nicht einschlafen will“. Als er erschöpft im Bahnhof sitzt, den wimmernden Frauen lauschend, schließen sich Paschas Augen, „die Kälte steht ihm in der Lunge wie Wasser im verstopften Waschbecken“.

Natürlich fehlt dem Laien der ukrainische Originaltext zum Vergleich, doch in Anbetracht solcher sprachlicher Qualität ist anzunehmen, dass dieses Buch – beziehungsweise seine Übersetzer Juri Durkot und Sabine Stöhr – völlig zu Recht den Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse erhalten hat. Der Beurteilung der „kaskadenartigen Satzketten, die im Deutschen einen drängenden Erzählrhythmus erzeugen“ durch die Jury kann sich der Rezensent also nur anschließen.

Doch das größte Lob gebührt natürlich dem Autor, Serhij Zhadan. Es ist nicht seine erste Wortmeldung aus dem Krieg, bereits sein Roman Mesopotamien und die Sammlung von Gedichten und Prosa Warum ich nicht im Netz bin entstanden vor diesem Hintergrund. Auch Internat legt Zeugnis ab von seiner herausragenden Fähigkeit, die Welt der Ostukraine mit bestechender Präzision zu schildern, ohne sie zu banalisieren, zu bagatellisieren. Die postsowjetische Welt in ihrem Zerfallen und ihrem Aufleben erwacht in seinen Texten zum Leben. Er ist die Stimme der Dunkelheit, die sich nach dem Licht drängt – und Kälte findet.

Info

Internat Serhij Zhadan Juri Durkot, Sabine Stöhr (Übers.), Suhrkamp 2018, 300 S., 22 €

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