Vielversprechend gefährlich

Argentinien Tausende Demonstranten fordern ein neues Abtreibungsrecht, und ihr Protest weitet sich zu einer Generalkritik aus
Ausgabe 23/2018

In den Häuserschluchten von Buenos Aires hallen Trommeln und Parolen lautstark wider, Tausende Menschen ziehen durch die breiten Boulevards. Sie sind zur vierten jährlichen Demonstration der Bewegung Ni Una Menos („Nicht eine weniger“) gekommen. Die Anfang Juni 2015 entstandene Bewegung demonstriert regelmäßig gegen Misogynie und Frauenmorde – und hat inzwischen auch internationale Ableger. 2015 wurde die Öffentlichkeit noch von der großen Anzahl der Demonstrierenden überrascht, in diesem Jahr aber war damit zu rechnen. Nicht nur, weil im Land nach wie vor etwa alle 30 Stunden ein Femizid stattfindet – also eine Frau deshalb getötet wird, weil sie eine Frau ist. Diesmal mobilisiert ein weiteres Thema die Menschen: Seit März wird im Repräsentantenhaus ein Gesetzentwurf zur Legalisierung von Abtreibungen innerhalb der ersten 14 Schwangerschaftswochen diskutiert. Am 13. Juni wird abgestimmt, womit der Text an den Senat übergeben werden soll. Die Losung des Tages lautete an diesem Montag also: „Ohne legale Abtreibung gibt es kein Ni Una Menos“.

Das Verbot tötet Frauen

Kein Wunder, dass sich die Demonstration in ein Meer grüner Kopftücher verwandelte. Die dreieckigen Tücher wurden durch den jahrzehntelangen Protest der Madres de Plaza de Mayo – jener Mütter, die während der argentinischen Militärdiktatur um ihre verschwundenen Kinder kämpften – zu einem starken Symbol politischen Engagements für Menschenrechte in Argentinien. Auf der Demonstration waren die Tücher mit der grünen Farbe und dem Logo der „Nationalen Kampagne für das Recht auf legale, sichere und kostenfreie Abtreibung“ versehen. Dieser Zusammenschluss von über 300 Organisationen arbeitet seit über zehn Jahren auf eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts hin und hat das Thema regelmäßig auf die öffentliche Agenda gesetzt. Ihre Gründung wurde 2004 von den über 20.000 Teilnehmerinnen des Nationalen Frauentreffens (ENM) beschlossen. Seitdem ist die Kampagne weiter gewachsen. Ihr schlossen sich neben feministischen Gruppen unter anderem Vertretungen von Sozialarbeitern, Beschäftigen aus dem Gesundheitssektor und Universitäten an. Neben dem Zugang zu legalen, sicheren und kostenfreien Abtreibungen gehören auch eine bessere Sexualerziehung und der verbesserte Zugang zu Verhütungsmitteln zu den Forderungen der Vereinigung.

Um den Druck auf die Legislative zu erhöhen, erarbeitete die Kampagne 2007 einen ersten Gesetzesentwurf, der immer wieder eine ausreichende Zahl an Unterstützerinnen und Unterstützern unter den Abgeordneten fand, um eingebracht zu werden – über den jedoch nie verhandelt oder gar abgestimmt wurde. Und das, obwohl seit 2002 mit dem Präsidenten Néstor Kirchner und ab 2007 mit Cristina Fernández de Kirchner die linkspopulistische Fraktion der peronistischen Partei regierte, die in puncto Menschenrechtspolitik und öffentlicher Gesundheit Fortschritte erwirkt hatte. Die Kriminalisierung von Abtreibungen blieb, was ihre Gegner die „Schulden der Demokratie“ nennen.

Seit der Rückkehr zur Demokratie im Jahr 1983 starben in Argentinien Schätzungen zufolge 3.000 Frauen bei klandestinen Abtreibungen. Die meisten von ihnen waren jung und arm. Wer reich ist, hat auf illegalen Wegen Zugang zu besserer Versorgung. Im Jahr 2015 gab das Gesundheitsministerium zu, dass jährlich etwa 370.000 bis 522.000 illegale Abtreibungen vorgenommen werden. Ein eindrücklicher Beweis dafür, dass ein Verbot die Praxis lediglich in dubiose Hände und ungesunde Umstände treibt. Die Statistiken sind naturgemäß mit Vorsicht zu genießen. Dennoch wird geschätzt, dass etwa ein Viertel aller Fälle von Müttersterblichkeit auf klandestine Abtreibungen zurückzuführen ist.

Nachdem in anderen Bereichen der Frauenrechte und der öffentlichen Gesundheit Verbesserungen errungen worden waren, wurde der Gesetzesentwurf von der Kampagne 2015 überarbeitet. Ein redaktionelles Team, das aus namhaften Feministinnen, Juristinnen und Ärztinnen bestand, arbeitete die Vorschläge lokaler Diskussionsforen ein und Anfang März 2016 wurde der neue Entwurf beschlossen. Zwei Jahre später, am 5. März 2018, landete er zum siebten Mal im Repräsentantenhaus. Diesmal mit Erfolg: Er wurde diskutiert. Und nicht nur in den Hallen des Kongresses.

Politisierung wie selten

Selten hat ein Thema so viele Argentinierinnen und Argentinier politisiert. Insbesondere junge Frauen, ob schon im Rahmen von Ni Una Menos politisiert oder nicht, trugen die Diskussion dorthin, wo sie stattfinden musste: auf die Straße, in Schulen und Universitäten, in die Familien. Umfragen zufolge gibt es ein glattes Patt in der Bevölkerung: Während sich 46 Prozent gegen die Liberalisierung von Abtreibung aussprechen, sind 45 Prozent dafür.

Denn kampflos ergeben sich die Abtreibungsgegner natürlich nicht. Am 25. März, dem „Tag des ungeborenen Kindes“, und am 20. Mai fanden Demonstrationen gegen das Recht auf Abtreibung mit einigen tausend Menschen statt. Rechtzeitig vor der Abstimmung will die Organisation „Unidad Provida“ („Einheit für das Leben“) den Abgeordneten 150.000 Unterschriften überreichen. Symbolträchtig wird dies von sogenannten „Abtreibungsüberlebenden“ übernommen, also Personen, die ausgetragen wurden, obwohl die Mutter in sehr schwierigen Umständen lebte.

Im Kongress wird derweil gerungen. Neben dem Vorschlag der feministischen Kampagne gibt es auch andere, weniger weit gehende Gesetzesvorschläge. Sollten alle Abgeordneten an der Abstimmung teilnehmen, braucht es 130 Stimmen für eine Mehrheit. Laut der Tageszeitung La Nación haben 114 Abgeordnete ihre Unterstützung der Initiative der Kampagne angekündigt, während 112 versprachen, dagegen zu stimmen. Entscheidend sind also die Stimmen der 30 Unentschlossenen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass in den Kommissionen, die den Text schließlich dem Plenum vorlegen müssen, Kompromisse vereinbart werden, um deren Zustimmung zu ergattern. Kritisch diskutiert wird die Verpflichtung des medizinischen Personals zur Abtreibung, die in dem bisherigen Entwurf vorgesehen ist. Vorgeschlagen ist die Einführung der Möglichkeit, sich ihr individuell zu verweigern. Jedes Krankenhaus und Gesundheitszentrum müsste jedoch sicherstellen, dass dort Abtreibungen vorgenommen werden können.

Die Spaltung in der Frage betrifft vor allem das Lager der Regierung, die Fraktion Cambiemos. 64 Abgeordnete haben bereits ihre Ablehnung ausgedrückt, allerdings sind 34 für das Gesetz – keine geringe Zahl. Elf weitere sind unentschieden. Sieben davon gehören wiederum zur konservativen Partei des Präsidenten Mauricio Macri. Dort fliegen gerade die Fetzen wegen eines angekündigten Fototermins: Unterstützer der Abtreibungslegalisierung wollen gemeinsam mit Funktionären von Staat und Stadt auf der Treppe des Kongresses posieren. Während die Nervosität also steigt, ist es schwierig vorauszusagen, wie die Abstimmung ausgehen wird.

Die laute Menschenmenge, die sich am Montag vor dem Kongress versammelte, macht einen anderen Ausgang als ein „Ja“ zum Abtreibungsrecht jedoch schwer vorstellbar. Die Demonstrierenden machen die Regierungsparteien noch aus ganz anderen Gründen nervös. Zu den Forderungen nach Bekämpfung von frauenfeindlicher Gewalt und der Abschaffung des Abtreibungsverbots gesellte sich eine klare Ablehnung der Regierungspolitik im Allgemeinen. Zu dem Slogan „Vivas nos queremos“ („Lebend wollen wir uns“) kam nun die Forderung „Desendeudadas nos queremos“ („Unverschuldet wollen wir uns“) – eine Missbilligung der Ankündigung Macris, nach zwölf Jahren den Internationalen Währungsfonds erneut ins Land zu holen und sich im Austausch gegen Kredite dessen Kürzungspolitik zu unterwerfen. Angesichts aktueller Sparmaßnahmen, steigender Lebenshaltungskosten, der Rezession und einer Inflation von 25 Prozent keine rosigen Aussichten für das Land. Das wissen auch die Organisatorinnen von Ni Una Menos. Und sie haben bewiesen: Sie bringen Hunderttausende auf die Straße. Das ist vielversprechend gefährlich.

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