Wie die Kartellwächter schliefen

Big Tech Die digitalen Monopole konnten reifen, weil Kartellbehörden ihnen tatenlos zusahen. Ein Blick in die Geschichte des US-Kartellrechts zeigt, wie es dazu kam

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Wie konnte Facebook nur so übermächtig werden?
Wie konnte Facebook nur so übermächtig werden?

Foto: Joel Saget/AFP via Getty Images

Google, Amazon, Facebook und Apple haben seit 1998 zusammen über 500 Unternehmen aufgekauft. Diese Übernahmen sind Teil einer Monopolisierungsstrategie, mit der die Marktmacht der Big-Tech-Unternehmen zementiert wird. Das ist offensichtlich bei Fällen wie Facebooks Akquisitionen von Instagram und WhatsApp in den Jahren 2012 und 2014, Amazons Übernahme des Online-Händlers Quidsi im Jahr 2008, oder Googles Kauf von YouTube im Jahr 2006.

Da drängt sich die Frage auf: Gibt es nicht Kartellbehörden, die dafür da sind, solche wettbewerbsverzerrenden Übernahmen zu unterbinden? Und sollten sie nicht vorausschauend handeln – statt Monopole erst zu regulieren, wenn die Konkurrenz bereits am Boden liegt? Tatsächlich schliefen die amerikanischen Wettbewerbsbehörden, während sich Big Tech nach dem Platzen der Dotcom-Blase formiert hat. Unter der Präsidentschaft von George W. Bush (2001-2009) haben die Behörden keinen einzigen signifikanten kartellrechtlichen Fall geführt. Und unter Barack Obama (2009-2017), der im Wahlkampf vom damaligen Google-CEO Eric Schmidt beraten und unterstützt wurde, waren es nur vier gewonnene Fälle (inklusive eines Urteils gegen Apple wegen Preisabsprachen bei E-Books).

Es mag verwundern, dass im politischen System der USA eine Tradition bestand, die eine strenge kartellrechtliche Linie vorsieht. Doch es gab sie mal, die Welle der „Trustbuster“ (in etwa: Kartellbrecher), die unter den Präsidenten Theodore Roosevelt (1901-1909) und William Howard Taft (1909-1913) angestoßen wurde. Roosevelts Administration führte und gewann 45 kartellrechtliche Verfahren, aus einem davon resultierte die Zerschlagung von John D. Rockefellers Standard-Oil-Imperium in 34 Teile. Sein Nachfolger Taft knüpfte daran an mit 75 gewonnen Fällen, darunter Verfahren gegen American Tobacco, U. S. Steel, und den Telefonmonopolisten AT&T. Der Kartellrechtler Tim Wu schlägt mit Blick auf die Big-Tech-Monopole vor, an die „Trustbuster“-Tradition anzuknüpfen, die in Reaktion darauf entstand, dass um die Wende zum 20. Jahrhundert in den USA fast jeder Industriezweig von einem Kartell dominiert wurde. Rockefeller wurde durch die Kontrolle der Öl-Pipelines zum reichsten Mann der US-Geschichte, sein Vermögen umfasste nach heutigem Wert geschätzt zwischen 300 Milliarden und 400 Milliarden Dollar. Auch der Stahltycoon Andrew Carnegie, der Eisenbahnkönig Cornelius Vanderbilt und der Investmentbanker John Pierre Morgan (der Kartelle wie U. S. Steel und AT&T kontrollierte) zählten nicht nur zu den reichsten, sondern auch den mächtigsten Menschen des Landes. Der Unmut in der Bevölkerung wuchs, während die Großkonzerne boomten, entstanden in den Städten die Elendsviertel. Populistische Präsidentschaftskandidaten gewannen Unterstützung, ebenso die Arbeiterbewegung oder die bäuerliche Grange-Bewegung.

Der US-Kongress beschloss 1890 den Sherman Antitrust Act, um die Macht der Kartelle zu beschränken. Dabei handelt es sich um die bis heute gültige Grundlage des amerikanischen Kartellrechts, welche über die Jahre zwar durch zahlreiche Amendements erweitert wurde, jedoch im Grundgedanken unverändert blieb: Der Sherman-Act verbietet als Straftaten 1) Jeden Vertrag, jede Kartellbildung, sowie jede Konspiration zur Unterdrückung des Wettbewerbs und 2) Jeden unilateralen Monopolisierungsversuch. Das Problem mit dem Sherman-Act: Seine Bestimmungen sind so allgemein, dass Behörden und Gerichte viel Freiheit bei ihrer Anwendung haben – schließlich muss definiert werden, woran Monopolbildung oder eine Unterdrückung von Wettbewerb (im Gesetzestext: „in restraint of trade or commerce“) auszumachen sind. Der Sherman-Act fand deshalb zunächst kaum Anwendung und wurde von Kritikern als rein symbolischer Akt gesehen, um den öffentlichen Unmut über die Kartelle oberflächlich zu befrieden. Erst unter Präsident Roosevelt fand er konsequente Anwendung, getrieben durch den öffentlichen Druck, der 1904 durch ein Buch der Journalistin Ida Tarbell über die erpresserischen Geschäftsstrategien Rockefellers angefacht wurde.

Bei der Bekämpfung von Monopolen ging es den Trustbustern nicht nur um Markteffizienz, sondern um grundlegende Fragen von Gerechtigkeit, Freiheit und der Verteilung von Macht. Der Kongressabgeordnete John Sherman erklärte 1890 bei seiner Rede zur Einführung des nach ihm benannten Gesetzes, dass die Macht der Monopole den Grundgedanken der amerikanischen Unabhängigkeit bedrohte. Die Amerikaner, argumentierte er, entledigten sich per Verfassung der Herrschaft von Königen und Kaisern – und sollten dementsprechend keinen unternehmerischen Autokraten akzeptieren, der Kraft seiner Monopolmacht über das wirtschaftliche Zusammenleben regiert. Das Bewusstsein dafür, dass die Bekämpfung von Monopolen mit grundlegenden politischen Freiheiten zu tun hat, wurde durch den Zweiten Weltkrieg gestärkt – viele amerikanische Bürokraten sahen die Konzentration ökonomischer Macht in Kartellen als typisches Merkmal totalitärer Regime (man denke etwa an die IG Farben in Deutschland) und im Kartellrecht ein Mittel zur Stärkung der liberalen Demokratie.

Bis zu den Präsidentenschaften von John F. Kennedy (1961-1963) und Lyndon B. Johnson (1963-1969) wurde der Sherman-Act streng ausgelegt und angewandt. Weil Rockefeller einst seine Kontrolle über Eisenbahnstrecken nutze, um Konkurrenten im Ölgeschäft zu zerstören, wurde besonders die vertikale Integration von Märkten kritisch gesehen – weshalb etwa einem Schuhhersteller der Kauf eines Schuhhändlers verboten wurde. Tortenhersteller, die sich in Utah zu einem Konsortium zusammenschlossen, wurden 1967 der Verschwörung zu Monopolisierung des Marktes für Gefriertorten in Salt Lake City für schuldig befunden. Solche pedantischen Urteile riefen Kritik an als überbordend empfundener staatlicher Regulierung auf den Plan, vor allem aus der ab den 1960ern immer bedeutsamer werdenden Chicago School.

Die Juristin Lina Khan erklärte 2017 in einem beachtenswerten Artikel, wie digitale Monopolisten wachsen konnten, weil das amerikanische Kartellrecht seit den 1970ern schleichend abgeschwächt wurde – nicht durch Gesetzesänderung, sondern durch eine veränderten Auslegung der Gesetze von Behörden und Gerichten anhand der Dogmen der Chicago School. Vordenker dieser Schule im Kartellrecht war Robert Bork, dessen Buch „The Antitrust Paradox“ aus dem Jahr 1978 wiederholt in Urteilsbegründungen des Supreme Courts zitiert wird und die Überarbeitung der Monopolrichtlinien unter der Reagan-Administration inspirierte. Bork erklärte viele Kartellverfahren der 1960er für unnötig und marktfeindlich. Er argumentierte, dass die Struktur von Märkten und die Konzentration von Macht in diesen grundsätzlich kein Thema des Kartellrechts seien. Sein vermeintlich genialer Gedanke: Solange die Preise für Konsumenten nicht steigen, sind Praktiken wie Preisdumping oder die vertikale Kontrolle von Märkten kein Problem. Zentrales Ziel des Kartellrechts war für ihn die Maximierung von „Consumer Welfare“, Verbraucherwohlfahrt. Mit dem Einzug der Consumer-Welfare-Doktrin in die US-Rechtsprechung wurde es deutlich schwieriger, Unternehmen wegen Monopolbildung zu belangen – denn damit reicht nicht mehr der Hinweis auf schiere Marktmacht, sondern es muss nachgewiesen werden, wie diese auch zu höheren Preisen für Konsumenten führt. Unternehmen, die über Preisdumping ihres Konkurrenten klagen, müssen seit den 1990ern in der Regel eine „Recoupment“-Analyse vorweisen: Sie müssen dann beweisen, dass der Konkurrent seine Verluste aus dem Preisdumping durch die aus der höheren Marktmacht resultierenden steigenden Preise auch später wieder zurückgewinnen kann – also einen Beweis für etwas liefern, das noch nicht passiert ist.

Am Fall von Amazon zeigte Kahn, wie die Kartellbehörden durch das „Consumer-Welfare-Dogma“ den Aufstieg des Unternehmens verpassten – schließlich hat das Unternehmen lange auf Gewinne verzichtet, um dafür Marktmacht zu gewinnen. Wenn Behörden nur auf die Preise für die Konsumenten achten, ist es kein Wunder, dass sie an Amazon wenig auszusetzen haben: Die Preise sind dort ja auch meistens unschlagbar – für die Marktmacht des Unternehmens zahlen dafür andere (man denke an Arbeiter, Lieferanten, Händler, Steuerzahler, oder Umwelt).

Dass die schiere Marktmacht der Big-Tech-Unternehmen die Grenzen des Consumer-Welfare-Dogmas aufzeigt und eine neue Linie erforderlich macht, ist inzwischen auch bei Präsident Joe Biden und im US-Kongress angekommen. Lina Khan wurde von Biden im Juni 2021 zur Vorsitzenden der Federal Trade Commission ernannt – der Bundesbehörde, die gemeinsam mit dem Justizministerium als Wettbewerbshüter agiert. Tim Wu wurde bereits im Februar in den nationalen Wirtschaftsrat berufen, wo er Biden in den Bereichen Technologie und Wettbewerbsfragen berät. Doch welchen Einfluss die beiden in ihrer Positionen wirklich ausüben können und ob sie im Umgang mit Big Tech an die Trustbuster-Tradition anknüpfen können, ist noch offen. Schließlich geben die Unternehmen Millionen für Lobbying aus und sind mit Teilen beider Parteien vernetzt. Im Leitungsgremium der Federal Trade Commission teilt sich Lina Khan die Macht mit von Republikanern benannten Kommissaren, zudem verfügt Big Tech über die George Mason University über eine Hintertür in die Behörde. Einen Monat nach Khans Berufung beantragte Amazon bereits, dass sie nicht an der Untersuchung des Unternehmens beteiligt sein sollte – da sie aufgrund ihrer akademischen Forschung zum Thema voreingenommen sei.

Khan, Lina (2017): Amazon's Antitrust Paradox. In: Yale Law Journal 126.

Wu, Tim (2019): The Curse of Bigness. Antitrust in the New Gilded Age. New York: Columbia Global Reports.

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Geschrieben von

Lion Hubrich

Big Tech erklärt

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