Anleitung zur Fremdverwirklichung

Lyrik Die Fortsetzung seiner Musik mit anderen Mitteln: Hans Unstern setzt sich in seinem ersten Gedichtband mit den Eigen- und Fremdwahrnehmungen auseinander

Was für eine kalte Welt. Und jetzt hat dieser Rainald Goetz mit seinem Johann Holtrop auch noch das letzte wärmende Lagerfeuer, das der Literatur, ausgetrampelt. Hat die Welt eines asozialen Egomanen beschrieben, ganz ohne Empathie, nur Verachtung. So kann doch nur jemand schreiben, der längst ebenso kalt geworden ist, konnte man lesen.

Ein Blick auf die herzerwärmenden Videos auf johannholtrop.de hätten gereicht, um von dieser Sichtweise abzurücken. Zum Beispiel das eine, in dem sich Rainald Goetz bei der Buchvorstellung in der Suhrkamp-Zentrale überschlägt mit Hinweisen an die Rezensenten, zum Beispiel dem, nicht mit jeder Buchkritik auch ein Porträt des Autors schreiben zu wollen.

Um solche Kurzschlüsse zwischen Werk und Autor zu vermeiden, entwirft sich Hans Unstern einfach alle paar Jahr neu. Wollte man vor zwei Jahren etwas über den zotteligen Musiker und sein erstes Album schreiben, war nicht mehr zu erfahren, als dass er sich vor ein paar Jahren eben „Hans Unstern“ genannt habe, mehr gäbe es dazu nicht zu sagen. Vor ein paar Monaten gab er dann sein vorerst letztes Konzert.

Und jetzt sitzt da einer, frisch rasiert, mit Sonnenbrille, weißem Anzug und blauen Haaren, vor dem Bücherregal des Merve-Verlags (viel bunter als das bei Suhrkamp!) und stellt seinen ersten Gedichtband vor – mit den Worten „das ist nur ein Übergang“. Nicht schon wieder, denkt man noch, und fängt an zu lesen. Das Buch heißt Hanky Panky Know How. Das „Know How“, um das es hier geht, ist das passende, um gegen diese verdammte Kälte anzugehen.

Fluchtbewegung vor dem Selbst

„Mit einem Strauß / Blattläuse / Stehe ich vor meiner eigenen Tür / Woher kommt diese Einsamkeit?“, heißt es im ersten Gedicht. Und im nächsten: „Ich schäme mich / Für mich / Schämen sich sogar die Läuse“. Da fühlt sich jemand so ungenügend, dass er sich auf die Suche nach etwas anderem macht. Auf dem Buchumschlag sieht man, wie Hans Unstern versucht, sich aus einem Raster, das auf sein Gesicht projiziert ist, herauszusingen: „Kratz den Mann aus dir raus, verrat das Land deiner Väter“, lautete das Programm seines ersten Albums. Aber was heißt Programm? Eher müsste man von einer Fluchtbewegung vor dem Selbst sprechen. Wer will schon so sein, wie er oder sie eben ist? Dagegen hilft nur Fremdverwirklichung. Hans Unsterns Ziel ist es: „Der Fremdverwirklichung / So nah wie möglich kommen“.

Manchmal kommt man ihr sehr nah. Und manchmal verfolgt einem das alte Selbstbild noch („Jeden Morgen aufstehen / Immer in Sorge / Ich könnte schon auf dem Klo sitzen / Wenn ich ins Bad komme“). „Paris“, eines seiner schönsten Lieder, in dem Buch allein auf über 150 Seiten abgedruckt, mit meist nur mit einem Wort pro Seite.

Und mittendrin die Frage: „Wann sehe ich ein Gesicht, das mich nicht an dich erinnern kann“?

Das sind die Kollateralschäden der „Fremdverwirklichung“. Aber gibt es einen anderen Weg aus der Kälte, aus der Einsamkeit, als diesen? „Ich such die Teile zusammen die nicht passen / Ich stell mir vor ich bau mich zusammen / Ich stell mir vor du baust mich zusammen / Dann wird es eine Operation sein“. Das Leben ist eine Operation am offenen Herzen.

Ein paar der Menschen, aus denen sich Hans Unstern auf seinem Weg zusammengesetzt hat, sind auf der letzten Seite gelistet. Unter diesen „Ghostwritern“ sind Sibylle Berg, Sarah Kane, Andreas Spechtl und viele andere. Wir hoffen, dass man von Hans Unstern nach dem nächsten Entwurf auch wieder Neues und Anderes hören kann. Bis es soweit ist, nehmen wir erst einmal die Ghostwriter mit auf unsere Flucht.

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