Es ist das sechste Krisenjahr und Richard Seymour, Soziologe an der London School of Economics, ist ziemlich „fucked off“. Nicht einmal darüber, dass von einer linken Alternative immer noch nichts zu sehen ist. Vor allem darüber, dass die meisten noch nicht einmal verstanden haben, was unter dem Label „Austerität“ derzeit in immer mehr Ländern vor sich geht. Was tun, fragt sich Seymour schon eine ganze Weile auf seinem Blog leninology.com, der eine wichtige Adresse für die neue Linke in England ist. Der Weg aus der Bedeutungslosigkeit hin zu einer zielführenden Beschreibung der Wirklichkeit führt (auch) für ihn über Antonio Gramsci.
Mit dem Begriff der „Hegemonie“ hatte der italienische Kommunist einen Weg gefunden, die Führung einer bestimmten Klasse nicht einfach aus den ökonomischen Verhältnissen abzuleiten. Entscheidend ist für Gramsci, ob und wie es einer gesellschaftlichen Gruppe gelingt, bestimmte Denkmuster und Verhaltensweisen im Alltagsleben zu etablieren. Das Ganze funktioniert nur, wenn die Menschen mitmachen.
Breites Bündnis
Analog will Seymour nun in seinem neuen Buch Against Austerity. How We Can Fix the Crisis They Made zeigen, wer es wie geschafft hat, dass wir die aktuelle Krise als eine der zu hohen Staatsschulden interpretieren, und meinen, dass gespart werden muss, um sie zu lösen – und zwar vor allem auf Kosten der sozial Schwachen. Natürlich ist Seymour nicht der einzige Theoretiker, der die staatliche Sparpolitik hart anklagt. In den Blättern für deutsche und internationale Politik kann man von Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman gerade ein feuriges Pamphlet mit dem Titel „Wir sparen uns zu Tode“ lesen. Krugman bezieht sich auf John Maynard Keynes, der schon vor rund 30 Jahren das Bonmot geprägt hat, dass „der Aufschwung, nicht der Abschwung,“ der richtige Zeitpunkt sei, um zu sparen. Auch Seymour macht schnell klar, dass „Austerität,“ gar kein neues Teufelszeug ist. Sondern ein lange erprobter Krisenmodus des Neoliberalismus. Letzterer beschreibt nicht etwa den „Rückzug des Staats“, oder einen neuen „Marktradikalismus“, wie immer wieder zu lesen ist. Sondern einen organisierten gesamtgesellschaftlichen Umbau, wie er in den 70er Jahren begann.
Bis dahin waren Profite über das Wachstum nationaler Großindustrien, steigende Löhne und den damit verbundenen Massenkonsum sichergestellt. Mit zunehmender internationaler Konkurrenz kam dieses Modell an seine Grenzen. Einer breiten Koalition aus Wissenschaft, Wirtschaft, Banken und Politik gelang es (schon damals), die Krise als eine der zu hohen Staatsausgaben und überzogenen Gewerkschaftsansprüche darzustellen. Auch im Europäischen Einigungsprozess setzten sich entsprechende Maßnahmen durch: Öffentliche Ausgaben und Löhne wurden gekürzt, nicht mehr die Binnennachfrage, sondern der Exportmarkt wurde entscheidend. Massenkonsum und Wachstum basierten so seit Mitte der neunziger Jahre zunehmend auf Schulden.
Klare und populäre Forderung
Die Ungleichheit wuchs weiter, denn für die Kollateralschäden haftete stets die Allgemeinheit. „Austerität“ ist somit kein sozial neutraler Sparkurs, sondern die verschärfte Akkumulationsstrategie der führenden Klasse. Seymour zeichnet diese Strategie im New York der 70er Jahre nach, skizziert sie durch die Thatcher- und Reagan-Jahre und kommt schließlich im Jahr 2011 in Wisconsin an. Der dortige Gouverneur Scott Walker wollte die Defizite seines Staates mit Ausgaben- und Lohnkürzungen und gleichzeitigen Steuersenkungen für die Wirtschaft „lösen“, und dabei das Recht auf Lohnverhandlungen der Gewerkschaften gleich mit abschaffen.
Bis zu 100.000 Menschen gingen gegen seine Pläne auf die Straße und besetzten das Kapitol. Einem breiten Bündnis aus Gewerkschaften bis hin zu militanten Linken gelang es so, die Austeritätspolitik erstmals kollektiv in Frage zu stellen.
Allerdings unterstützten die Gewerkschaften und viele Aktivisten bald nicht mehr die Proteste, sondern setzten unter dem Motto „We are Wisconsin“ auf Neuwahlen. So gaben sie Republikanern, Tea Party, Tabaklobby und konservativen Medien wieder Luft zum Atmen, anstatt mit weiteren Streiks und zivilem Ungehorsam diese Koalition zu spalten. Walker gewann. Doch Wisconsin markiert den Beginn eines Protestzyklus, der gegen die Sparprogramme auf direkte Demokratie setzt und schließlich in die Occupy-Bewegung mündete.
Aus diesen gescheiterten Protesten zu lernen, heißt für Seymour vor allem, die Organisationsfrage neu zu stellen. Er hofft nun auf eine breite Bewegung aus Parteien, Gewerkschaften, Prekären und militanten Gruppen, die im Zweifel eher auf zivilen Ungehorsam und Community-Organizing setzt als auf den parlamentarischen Prozess. Sie müsste die Reste des Wohlfahrtsstaats verteidigen, gleichzeitig aber ein offensives, linkes Projekt aufbauen.
Und das gelingt nur, wenn sich die Linken dem gängigen Austeritäts-Argument (ungefähr: „Wir können Schulden nicht mit Schulden bekämpfen. Also müssen wir sparen und Anreize für neue Investitionen und Wachstum schaffen.“) stellen und ihm eine eigene Antwort entgegensetzen, die lieber an das schlechte Neue als an das gute Alte anknüpft, wie Seymour Bertolt Brecht zitiert.
Auf die Frage, wie all die Ausgaben finanzierbar seien, die Linke immer fordern, sollten diese also nicht bei „Schulden machen“ oder „Reiche besteuern“ stehen bleiben, sondern gleich einen Schritt weiter gehen und auf die Verstaatlichung der Banken setzen. Das sei eine klare und populäre Forderung, die klar mache, wo die Schuldigen sitzen.
Spätestens hier zeigt sich jedoch, dass das schlechte Neue manchmal nur das noch schlechtere Alte ist. „Wir sind die 99 Prozent“ und „Schuld ist die Fed-Bank“ hört man gerade vor allem auf den dubiosen Montagsdemonstrationen. Die besuchen zwar immer mehr Menschen, aber will ein linkes Projekt an diesen simplen Verstand andocken, oder müsste der Bruch vielleicht nicht noch viel grundlegender ausfallen?
Against Austerity. How We Can Fix the Crisis They Made Richard Seymour Pluto Press, 2014, 208 S., 17 €
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