Tag 2: "Ich halt's nicht mehr aus!"

kritische Theorie Autoritarismus und fehlende Selbstkritik; Freud und die verlernte Philosophie der Deutung; die Gegenwart des Patriarchats und seine Verteidigung in Thor 2

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Zweiter von drei Teilen eines subjektiven Protokolls zur Konferenz "Kritische Theorie – Eine Erinnerung an die Zukunft", die vom 29.11.-1.12.13. an der HU in Berlin stattfand (Programm).

Tag 1: Ohne Angst verschieden sein
Tag 3: Immer radikal, nie konsequent

Trotz des ziemlich missglückten ersten Podiums am Vorabend ist der Kinosaal der HU am Samstag um 11 Uhr wieder rappelvoll. Gunzelin Schmid-Noerr und Ko-Referent Sebastian Neubauer reden über „,Widerstand gegen die Gewalt des Bestehenden’ – Zur kritischen Theorie des Autoritarismus“. Schmid-Noerr artikuliert zunächst seine Freude, dann sein Unbehagen an einem so großen Interesse an dieser Konferenz. Man müsse schließlich aufpassen, dass „kritische Theorie“ nicht zum Label werde, unter dem sich in Zeiten der großen Unübersichtlichkeit die Menschen ohne weiteres Nachdenken versammelten.

Die Gefahr, dass sich auf einmal wieder Menschen für kritische Theorie interessieren könnten, wehrt Schmid-Noerr mit seinem Vortrag allerdings erfolgreich ab. Dabei geht es interessant los. Er wolle den Anspruch der kritische Theorie Adornos ernst nehmen, sagt Schmidt-Noerr, in eine Sache eintauchen, um sie kritisieren zu können und nach widerständigem Potenzial zu suchen.

Schlummernder Autoritarismus

Er wolle nach der Aktualität des Autoritarismus fragen, also nach Mustern, Einstellungen und Verhaltensweisen, die der Rechtfertigung von Herrschaft dienten. Herrschaft verlange stets eine Verdrängung von Angst und Ohnmacht sowie eine Ableitung dieser Erfahrungen auf Fremde. Entscheidend in der Ausbildung dieser Erfahrungen sei dabei die Familie, die Eltern, die ihre Kids mit einer emotionalen Grundausstattung versorgten.

Schmidt-Noerr bezieht sich im Folgenden auf Adornos Studie zum autoritären Charakter und merkt an, dass vor allem Väter, die umso stärker an ihrer eigenen, brüchigen Autorität festhalten, viele autoritäre Charaktere produzieren. Dies geschehe beispielsweise dann, wenn die Väter unter dem ökonomischen Druck der Arbeitslosigkeit stehen. Ihre Kinder seien besonders anfällig für stereotype Welterklärungen.

Während die Milgram-Experimente (1961) gezeigt hätten, dass etwas zwei Drittel der Menschen in einem entsprechenden Setting zum KZ-Schergen werden könnten, hätten Adorno und Horkheimer auf die darunter schlummernden Charakterstrukturen hingewiesen, gegen die nur eine „Erziehung zur Mündigkeit“ helfen könne.

"Oh, schon so spät?"

Schmid-Noerr zieht nun ein knappe Stunde lang Schleifen um diese zwei Studien, bis er in Anbetracht der fortgeschrittenen Zeit doch noch fünf Minuten auf die Gegenwart verwendet. (Ich schreibe das hier so, weil dieses Zeitmanagement offenbar eine Masche von Schmid-Noerr zu sein scheint. Ich habe das schon einmal bei einer Konferenz in Oldenburg miterlebt. Es war am Nachmittag des letzten Konferenztags, Schmid-Noerr war der letzte Vortragende und überzog seine Redezeit ungefähr um das doppelte, um dann mit den Worten „oh, schon so spät, das ist mir peinlich“ noch zehn weitere Minuten zu reden. In Berlin ist es jetzt genau so, was alles zu Lasten des Ko-Referenten, der Diskussion, der Gegenwart geht.)

„The Authoritarian Personality“, ebenso wie das Milgram-Experiment, seien Kinder des Fordismus, fährt Schmid-Noerr fort. Sie stammten aus der Zeit einer staatlich gelenkten Massenproduktion und des Aufbau eines Sozialstaats, der seit den 70er Jahren am Zerfallen sei. Die Arbeiterinteressen hätten sich unter der globalen Konkurrenz klar in Richtung des Kapitalinteresses verschoben.

Die Zumutungen der Kulturindustrie

Mit diese Bewegung sei auch der klassische Staatsautoritarismus verschwunden und habe sich zu einem „anonymen Autoritarismus“ weiterentwickelt. Dieser sei nicht mehr durch Führerfiguren, sondern in der Zivilgesellschaft selbst verortet – Stichwort „Selbst-Disziplinierung“, „Eigenverantwortlichkeit“, „Sorge um sich“. Das Selbst sei von den ökonomischen Bedingungen ständig bedroht und suche Zuflucht in den von Zygmunt Baumann beschriebenen „imaginären Gemeinschaften“.

Laut Schmid-Noerr läuft die „autoritäre Zumutung“ heute größtenteils über die Kulturindustrie, sie habe aber deswegen seit den 70ern keineswegs abgenommen. Mit diesem aktuellen Randnotizen bricht Schmid-Noerr abrupt ab – „die fortgeschrittene Zeit!“ Den Zuhörer_innen bleibt nur die Hoffnung, zu den aktuellen Formen des Autoritarismus am nächsten Tag mehr zu erfahren, wenn die Kulturindustrie auf dem Programm steht.

Die "alten Meister" und ihre Schüler

Schmidt-Noerrs Vortrag ist dafür eine ideale Vorlage für Ko-Referent Sebastian Neubauer. Er wendet die Frage nach der „Aktualität des Autoritarismus“ auf die kritische Theorie selbst an und holt zum Rundumschlag aus: Er kritisiert den ewigen Bezug auf die „alten Meister“, das Vermeiden selbstkritischer Traditionsbefragung, jene „Karohemd und Nickelbrille tragenden kritischen Theoretiker mit kleinem Bierbauch“, die immer noch den Autoritarismus der 50er Jahre durchkauten statt sich mal zu fragen, wie man heute überhaupt kritische Theorie betreiben könne. Ein „weiter so“ könne es nicht mehr geben.

Auf erboste Zwischenrufe von Nickelbrille tragenden Kritikern mit Bierbauch stellt Neubauer vier Thesen zur Reformierung kritischer Theorie vor:

  1. Kritische Theorie brauche einen Ort; der könne heute weder die Uni sein, noch die Schankwirtschaft Laidak (Zwischenruf: „Doch!“)
  2. Sie brauche eine Verbindung zu einer gesellschaftlichen Gruppe, eine soziale Bewegung, zumindest irgendeinen Adressaten
  3. Sie müsse auf der Höhe der Zeit sein. Dazu müsse sie die Systematik des Ganzen ein Stück weit aufgeben, lieber kleinere Texte schreiben, sich wieder auf die Suche machen, ähnlich wie es Horkheimer in seinen späten Schriften versuchte
  4. Und eben auch: Sie müsse ihr Verhältnis zu ihren „alten Meistern“ klären

Dieser Einwand wird in der Diskussion von einem autoritären kritischen Theoretiker sofort niedergemacht. Er wolle hier lieber über Inhalte reden und keine Zeit mit Floskeln wie „danke an die Veranstalter“ oder genereller Theoriekritik verschwenden. Er wolle stattdessen mehr zum autoritären Charakter von heute hören. Wäre ja ohne weiteres möglich gewesen, wenn Schmidt-Noerr darüber geredet hätte.

Zu kritisch für ein Ko-Referat?

Eine Studentin fragt wieder nach Bezugspunkten zu heutigen Fragestellungen. Naja, entgegnet Schmid-Noerr, er habe eben auswählen müssen. Er sehe das mit den „alten Meistern“ aber auch nicht so kritisch. Als er gerade wieder zu einer sehr ruhigen Erzählung ansetzt, darüber, wie schlimm Adorno selbst in seinen Vorlesungen gewesen und was für ein autoritäre Aura von ihm ausgegangen sei – im Grunde interessant, nur hat er zu diesem Zeitpunkt schon wieder viel zu lange geredet – da schreit eine Zuhörerin von hinten: „Bitte aufhören, ich halte das nicht mehr aus! Sebastian soll auch nochmal was sagen!“

Sagt Sebastian Neubauer dann auch. Es sei mittlerweile wohl klar geworden, dass hier Fragen im Raum stünden, die nicht adressiert werden. Man müsse doch mal fragen dürfen, ob kritische Theoretiker heute noch Antworten gäben, mit denen man etwas anfangen könne. Ob man mit einem „Ko-Referat“ so ein großes Fass aufmachen solle, bezweifelt dagegen ein anderer Diskutant. Wenn sonst kein Platz dafür vorgesehen ist, vielleicht muss man es dann?

Freud und die alten Gewissheiten

Es folgt ein Vortrag von Helmut Dahmer „Zur Psychoanalyse“, der noch einmal die Sache mit Ich, Es, Über-Ich sowie Geschichten aus der großen Freud-Werkausgabe, Band 17, erzählt – über die Partei, die Patient und Therapeut gegen die Welt bilden. Er schließt mit dem Wunsch nach einer Ausbildungsstädte für Psychoanalyse, in der erst einmal nur Freud gelesen wird. Ob sich denn in 20 Jahren irgendetwas Relevantes ereignet habe, worauf er hier noch Bezug nehmen könnte, so wieder die obligatorische Frage einer Studentin. „Nein, eher im Gegenteil“.

Langsam ist es frustrierend. Offenbar hat die von Claussen diagnostizierte Begriffslosigkeit der Welt dazu geführt, dass sich die meisten Theoretiker lieber den guten alten Begriffen zuwenden und es nicht einmal für nötig erachten, sich der heutigen Wirklichkeit auch nur anzunähern.

Vergessene Deutungsversuche

Ich schenke mir den nächsten Vortrag über die „Dialektik der ökonomischen Rationalisierung“ von Gerhard Stapelfeld und gehe stattdessen in den parallel stattfindenden „Offenen Raum“. In ihm erinnert Vanessa Vidal vor etwa 30 Leuten an „Adornos Idee der Deutung“.

Sie zitiert aus Adornos „Aktualität der Philosophie“, redet von einer Philosophie, die anders als die Einzelwissenschaften nicht „forscht“, sondern das Wissen der Einzelwissenschaften in Versuchsanordnungen und Konstellation aus einer kritischen Haltung heraus „deutet“. Diese Philosophie der Deutung benötige Fantasie, gegenüber einem System bevorzuge sie die Form des Essays. Für den Deutungsprozess schöpfe sie stets aus aktuellem Material und beginne immer wieder von vorne. Von dieser Fantasie, dem neuen Material, von diesen Deutungsversuchen auf der Höhe der Zeit ist auf dieser Konferenz bisher kaum etwas zu hören gewesen.

Die GEGENWART des Patriarchats

Um so größer sind die Erwartungen an das abendliche Podium „Zur Gegenwart des Patriarchats“. Moderatorin Barbara Umrath spricht gleich an, dass offenbar einige Männer kritische Theorie immer noch ohne Geschlechterverhältnisse denken, wie man auch hier wieder beobachten könne. Roswitha Scholz skizziert darauf hin kurz ihre „Wertabspaltungstheorie“. Die kritische Theorie habe Scholz beeinflusst, weil sie sich nicht auf den klassischen Marxismus/Leninismus berufe und die Arbeiterbewegung als Adressat und revolutionäres Subjekt verworfen habe.

Gleichzeitig habe es Scholz immer gut gefunden, dass da noch ein paar Leute sein, die auch in den 90ern und entgegen aller Moden stets darauf beharrten, „dass die Welt scheiße ist“. Der zweite Einfluss neben der kT sei für Scholz die Wertkritik der 70er Jahre gewesen. Diese versuche der zunehmenden Bedeutung der Finanzmärkte, Blasenbildungen und Spekulationen gerecht zu werden.

Die doppelte Vergesellschaftung

Zur selben Zeit beobachtete Scholz jedoch, dass sich die „Frauenfrage“ immer weiter von der Kapitalismuskritik entfernt und separat behandelt wurde. Diese „Kulturalisierung des Sozialen“ habe sich unter dem Label der „Postmoderne“ in den 90er Jahren noch verschärft. Mit ihrem Buch „Das Geschlecht des Kapitalismus. Feministische Theorie und die postmoderne Metamorphose des Patriarchats“ (2001) habe sie gegen diese Tendenz deutlich machen wollen, dass Frauen heute eine doppelten Vergesellschaftung durchlaufen.

Sie müssten Ernährerin und gleichzeitig die Familienkümmerin sein, würden also in die Reproduktions- und die Erwerbsarbeit gleichermaßen gedrängt. Diese doppelte Vergesellschaftung könne nicht allein mit der Tauschform beschrieben werden. Vielmehr sei die Gesellschaft als „warenproduzierendes Patriarchat“ zu verstehen und die Frage von Scholz sei stets gewesen, wie sich dieses androzentrische Gesellschaftsbild bemerkbar mache.

Die Wertabspaltungsthese

Ich lege hier einen kurzen Wertabspaltungs-Exkurs ein, weil ich das wichtig finde und weil, soweit ich es richtig verstanden habe, das Podium wahrscheinlich nicht zum Nachhören angeboten werden kann. Das "warenproduzierende Patriarchat" basiert auf der Wertabspaltung. In ihrem Buch „Das Geschlecht des Kapitalismus“ beschreibt Scholz diese folgendermaßen:

"Die Wert-Abspaltungsthese behauptet eine "Abspaltung" des Weiblichen, der Hausarbeit etc. vom Wert, von der abstrakten Arbeit und den damit zusammenhängenden Rationalitätsformen, wobei bestimmte weibliche konnotierte Eigenschaften wie Sinnlichkeit, Emotionalität usw. der Frau zugeschrieben werden; der Mann hingegen steht etwa für Verstandeskraft, charakterliche Stärke, Mut usw. Der Mann wurde in der modernen Entwicklung mit Kultur, die Frau mit Natur gleichgesetzt. Wert und Abspaltung stehen dabei in einem dialektischen Verhältnis zueinander."

Ohne diese „Wertabspaltung“, ohne die Trennung „männlich“ vs. „weiblich“, Produktion vs. Reproduktion, kann der Kapitalismus laut Scholz nicht existieren. Wer diese Trennung nicht adressiere, vergesse ein wesentliches Moment in seiner Kapitalismus-Analyse.

Mit dem Holzhammer

Zur Veranschaulichung muss man sich nur den Trailer von Thor 2 anschauen: Da sind Mann und Frau Bewohner unterschiedlicher Welten, Nathalie Portman wird als jenes hilflose „Andere“ gezeichnet, von deren Existenz auch der Fortbestand von Thors Herrschaft abhängt.

In diese Welt pflügt sich das Schiff der Dunkelelfen,deren einziges Ziel es ist, das Nichts, aus dem die Welt entstanden ist, wieder über sie zu bringen. Natürlich gewinnt am Schluss der Typ, der mit dem Holzhammer sein Patriarchat vor der drohenden Geschlechter-Gleichmacherei der sympathischen Dunkelelfen verteidigt.

Zurück aufs Podium. Christina Kirchhoff charakterisiert die kritische Theorie daraufhin nicht als eine pessimistische, sondern als eine „traurige Theorie“. Traurig darüber, dass Menschen eher Nazis würden als Revolutionäre. Dennoch bestehe eine kT auf die Möglichkeiten einer Revolution, kT sei daher eine Form der Trauerarbeit. Trauer höre auf, wenn sie ein neues Objekte finde – die Zukunft.

Trauernd in die Zukunft

Um dieses neue Objekt zu finden, müsse sie jedoch zunächst wissen, was sie verloren habe. Die kT grenze sich vom Mainstream ab, der in Melancholie und Ohnmacht schwelge und für den immer alles irgendwie so weiter gehen werde. Eine „Erinnerung an die Zukunft“ sei eine Erinnerung daran, dass die Zeit nicht stillstehe und die Zukunft offen sei.

In der Geschlechterdifferenz werde jenes Bedürfnis der kritischen Theorie – „ohne Angst verschieden zu sein“ – am eigenen Körper erfahrbar. Was aus dieser Erfahrung werde, sei eine gesellschaftliche Frage. Deren Antwort auf diese Differenz laute, da stimmt Kirchhoff mit Scholz überein: Der Mann sei das vollkommene Wesen, der Frau fehle etwas.

Wünschenswert sei dagegen ein gesellschaftlicher Umgang mit dem Mangel, der eigentlich beide Geschlechter betreffe, der das Andere nicht abwerte und bekämpfe. Die Psychoanalyse sei dabei zentral, weil sie den Mensch denken könne, ohne dem Biologismus zu verfallen oder in sprachlichem Symbolismus aufzugehen.

"Wo sind jetzt die Männer?"

In der folgenden Diskussion geht es vor allem um die „doppelte Vergesellschaftung“, wenngleich die konkreten Rahmenbedingungen der heutigen Lohn- und Reproduktionsarbeit nur angedeutet werden. Aber das Podium bietet zum ersten Mal den Rahmen und die Zeit für einen solchen Austausch.

Eine Studentin sagt noch, dass es ziemlich erbärmlich ist, die Frage nach den Geschlechterverhältnissen auf ein extra Podium auszulagern, auf dem dann nicht einmal ein Mann sitze; gerade die sollten ihr Verhalten im Patriarchat thematisieren und selbstkritisch hinterfragen. Dass dazu bei vielen die Bereitschaft fehlt, dürfte am Ende dieses zweiten Tags klar geworden sein.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
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