Überall, nur nicht hier

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Wenn es statt „Wofür lebst du eigentlich?“ nur noch „Wovon lebst du eigentlich?“ heißt: Die Zeitschrift „Testcard“ fragt in ihrer aktuellen Ausgabe nach den Überlebensmöglichkeiten der Popkritik.

Am schönsten hat es David Mackenzie in seinem Film "Perfect Sense“ veranschaulicht. Um zu zeigen, wie „Überleben“ funktioniert, braucht er nicht einmal Zombies, erst recht keine ineinander fallenden Planeten. In „Perfect Sense“ verlieren die Menschen nach und nach all ihre Sinne. Trotzdem geht ihr Leben immer irgendwie weiter: Können sie nicht mehr riechen, würzen sie ihr Essen um ein Vielfaches. Können sie nicht mehr hören, pressen sie ihre Ohren dicht an die Musikboxen. Vielleicht schmecken sie ja doch noch etwas, vielleicht fühlen sie wenigstens, wie die Vibrationen der Musik den eigenen Körper treffen.

Gegen Ende verlieren Ewan McGregor und Eva Green dann ihr Augenlicht, während sie aufeinander zugehen. Sie schaffen es gerade noch, sich aneinander festzuhalten. Eine Stimme aus dem Off sagt: „Wenn sie jetzt jemand sehen würde, sähen sie aus wie ein normales Liebespaar. Sie wissen alles, was sie wissen müssen – selbstvergessen gegenüber der Welt um sie herum. Nur so geht das Leben weiter.“

Im Überlebensmodus ist die Welt um uns herum nur noch ein Störfaktor. Ob nun in Zombie-, Katastrophenfilmen oder sonstigen Weltuntergangszenarien – selten hatte der Kampf ums Überleben einen so prominenten Platz in der Popkultur wie heute. Dabei geht es nur scheinbar immer ums Ganze: Im Grunde geht es immer nur darum, selbst irgendwie über die Runden zu kommen: die volle Dröhnung Nichts.

Egal wie, egal wofür

Der Popkritiker Martin Büsser hat das Phänomen des „Überlebens“ einmal am Beispiel von Phil Collins erzählt (nachzulesen, wie alle folgenden Zitate von ihm in dem wundervollen Buch: „Music is my Boyfriend: Texte 1990 bis 2010“ – Martin Büsser starb Ende 2010 an Krebs). Phil Collins mache Musik, von der niemand sagen könne, wofür sie eigentlich steht – von Phil Collins selbst einmal ganz zu schweigen.

Seine Musik schwebe nun seit nunmehr als 30 Jahren überall "in the air": „Er ist der erste Mensch, dem es gelang, alleine über die Erzeugung von völliger Interesselosigkeit zum Milliardär zu werden“, schreibt Büsser. Überleben, egal wie, egal wofür – das Prinzip begleitet die Popkultur mit Phil Collins mindestens seit den 70er Jahren. Der Punk hatte sich mit seinem „No Future“ abzugrenzen versucht, gesagt: das hier ist kein Leben. Doch geblieben ist nicht Punk, sonder Phil.

Wenn nur noch Bier und Küsse schmecken

Was hat das nun für Folgen? Wie sich diese Kultur des Überlebens und des Durchwurschtelns, die man aus allen sozialen Sphären kennt entwickelt hat, könnte man auch in dem Wandel von der „Kulturindustrie“ zur „Popkukultur“ beschreiben. Beide Begriffe charakterisieren nie ein gesellschaftliches Subsystem, sondern immer die Gesellschaft als Ganzes. Kulturindustrie beschreibt nach Adorno den Versuch, die vormals nur einer Elite zugängliche Hochkultur in der aufgekommenen Massengesellschaft zu verankern. Da in der Massengesellschaft die Warenproduktion alle Lebensbereiche durchdringt, wird auch die Kultur zur Ware.

Popkultur wäre demzufolge der Zustand, in dem die Ware selbst zur Kultur erhoben wird, Pop somit eine "medial vermittelte Intensität, die im Leben einzulösen den Rezipienten bereits deshalb unmöglich erscheint, weil sie diese Intensität schlechthin nur noch als medial vermittelte kennen." (Büsser) Die Popkultur reproduziert die immer gleichen Versprechen nach Liebe und intensivem Erleben, "weil uns in einer Welt, wo nur noch Bier und Küsse schmecken, nichts anderes bleibt, als entweder vom Verlust zu singen oder die Lust zu trommeln". Am schlimmsten ist für Büsser die Musik, die sich in diesen Chor einfügt, „die sich gleich als Musik zu erkennen gibt“, gut ist die Musik, „bei der die Ohren weghören wollen“.

Verstörung gesucht

Um die Geschichte dieser „relevant verstörenden Ästhetik“ nachzuzeichnen, gründete Büsser 1995 das Magazin "Testcard – Beiträge zur Popgeschichte". Um sich mit der Umsetzung einer Idee zu beschäftigen, die "inhaltlich wie formal dazu beschaffen ist, den jeweiligen gesellschaftlichen Status quo in Frage zu stellen, dessen Wertvorstellungen zu erschüttern."

Seitdem erscheint die Testcard halbjährlich, mit rund 300 Seiten eher ein Buch als ein Magazin. Sie will das Scheitern der Gegenkulturen aufzuzeigen, ebenso wie die Momente ihres Gelingens. Momente, in denen es die Musik noch schafft, Intensität und Erleben zu erzeugen, und so vielleicht ein gefühltes Wissen über irgendeinen Weltzusammenhang zu vermitteln, der in einer gesammelten Werkausgabe nicht einmal anklingen könnte.

Das Neue und die Nische

Warum ist die Suche nach diesen verstörenden Momenten nun so schwer geworden? Zum einen, weil der so verstandenen Avantgarde seit geraumer Zeit eine Kategorie abhanden gekommen ist: die des „Neuen“. Der britische Musikkritiker Simon Reynolds hat das im vergangenen Jahr in seinem Buch "Retromania" beschrieben. Der digitale Zugang zu den kulturellen Artefakten der Vergangenheit, stelle eine Form des Überflusses dar, die längst Krise geworden sei. Musik bestehe zu weiten Teilen nur noch aus Referenzen. Somit ist das per se verstörende Element des „Neuen“ weggefallen ist. Popmusik und dessen Kritik befinden sich weitgehend in einem selbstreferentiellen Loop, so lautet die Bestandsaufnahme.

Zum anderen haben sich die, die sich von dem Mainstream abgrenzen wollen, in Nischen eingenistet, eigene Netzwerke, alternativen Vertriebswege gefunden. Was zu begrüßen ist, aber eben ein Wahrnehmungsproblem zur Folge hat: Wer soll da den Überblick behalten? Und wie sollen die vielen Nischen eine Wirkung erzeugen? In einem seiner späteren Texte äußerte Büsser deshalb die Hoffnung, dass all diese Nischen zusammengenommen den Mainstream und seine Formate wie DSDS selbst als Nische erscheinen lassen werden.

„Wovon lebst du eigentlich?“

Womit wir beim eigentlichen Problem sind: Denn selbst in der Nische ist das Musikmachen häufig nur noch als eine Art spät-pupertärer Luxus möglich. Irgendwann muss irgendwo Geld her. Und das wird bekanntlich immer schwieriger. „Überleben: Pop und Antipop in Zeiten des Weniger“ heißt so die im Dezember erschienene Testcard-Ausgabe.

Erwerbsmöglichkeiten und Lebensmodelle hätten sich auf eine Art und Weiße verdünnt, heißt es im Editorial, dass sich die Frage nach der eigenen materiellen und ideellen Lebensgrundlage immer intensiver aufdränge: „Finanzielle und kulturelle Kapitalströme wurden umgeleitet, Konzern-Renditen maximiert, Verluste ,sozialisiert', Sozialleistungen einkassiert, reale (bezahlte) Infrastrukturen und Produkte (vielfach ins Unbezahlte) virtualisiert oder (vielfach ins Unbezahlte) ideologisiert…“. Statt „Wofür lebst du heute eigentlich?“ heiße es heute nur noch „Wovon lebst du eigentlich?“

Vier Verhaltensmuster ständen diesen Bedingungen des „Überlebens“ gegenüber: 1. Ignorieren „(oft hilfreich aber naiv“) 2. Rumjammern („hilft, aber führt nicht weiter“) 3. Konvertieren („im Arschloch des Systems verschwinden“) 4. "Die ökonomischen Macht- und Feldverschiebungen möglichst nüchtern analysieren und möglichst un-ernüchterte Positionen dazu entwickeln, erproben und gegebenenfnalls erkämpfen." Die Testcard verschreibt sich freilich letzterem.

Das Starsystem der Popkultur

Sie tut das zum Beispiel mit begrifflichen Annäherungen im Gespräch mit Falko Schmieder, der einen 400 Seiten schweren Sammelband zum Thema herausgegeben hat, Ergebnis der vor zwei Jahren an der Akademie der Künste stattgefundenen Tagung: „Überleben. Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften?“. Der Begriff des „Überlebens“ kommt immer dann ins Spiel, so Schmieder, "wenn gewohnte Lebensvollzüge oder Reproduktionsdynamiken grundsätzlich prekär geworden sind, wenn sie gewissermaßen im Zeichen einer existentiellen Bedrohung oder Gefahr gesehen werden, die von allgemeiner gesellschaftlicher Bedeutung ist." So geschehen in den Theorien von Darwin und Marx, zu Beginn der Moderne.

Wie prekär die Lage heute ist, beschreibt David Schwertgen. Bei rund 11.500 Euro liegt das durchschnittliche Jahreseinkommen von Küntler_innen, Musiker_innen und Autor_innen unter 40 Jahren laut Künstlersozialkasse. Wie da rauskommen? Vor allem, indem keiner mehr dem gängigen Starsystem der Industrie folge, demzufolge es zuerst darauf ankäme, in den eigenen Namen zu investieren, ehe die Pop-Ökonomie diesen verwerte: „Wer plant als Kulturproduzent_in ein anständiges Leben zu führen, sollte es von Anfang an ablehnen, seine Arbeit umsonst anzubieten, auch wenn es eine stetig nachwachsende Armee von Praktikant_innen gibt, die diese Lektion noch schmerzhaft lernen muss.“

Eine Entwicklung, die Diedrich Diederichsen schon seit geraumer Zeit, so auch in dieser Ausgabe, als „Selbstverwirklichungselend“ anprangert. Ansonsten plädiert er im Gespräch dennoch für das Verlassen der Nische: “Ich glaube es fehlt an geteilten Zeichen und Habitus-Elementen der gerade überall entstehenden potentiellen globalen Linken der Zukunft, aber auch an Begriffen und Zielen, also eigentlich an Internationalität und Mainstreamfähigkeit, nicht von der Substanz her, aber von der Sprache. Ich hätte nie gedacht, als alter Subkulturalist, so etwas einmal zu fordern. Aber soweit ist es gekommen."

Bedürfnisse anklingen lassen

Daniel Kulla geht weiter. Es gehe eben nicht darum, "das gute Leben in seiner Szene" zu suchen, sondern, wie es in dem Büchlein „Der kommenden Aufstand“ heiße, „mit jenen Organisationen zu brechen, die nur noch mit ihrer Selbsterhaltung beschäftigt sind." Der Rückzug in die Nische sei bereits Resultat verlorener Kämpfe. Insofern geht die Programmatik für ihn bis hin zu Aneignung und Besetzung, fängt aber bereits "mit jeder Handlung, Äußerung, Note oder Zeile an, in der das traurige Dasein dieser Wünsche und Bedürfnisse anklingt, in der diese erkennbar werden, die zu ihrer Erfüllung aufreizt oder die sie bereits praktisch zu erfüllen beginnt."

Es scheint, als fordern die Bedingungen des „Überlebens“ zwar die Abgrenzung und damit auch die Nische. Aber den permanenten Überlebensmodus legt man erst mit dem Schritt nach draußen wieder ab. Und ein gewisses Maß an Blindheit, an Naivität, hat noch nie geschadet, um selbstreferentiellen Schleifen zu entkommen. Oder, wie es Martin Büsser einmal über die nur noch um sich selbst kreisende Hardcore-Szene schrieb: „Diese Sprüche müssen draußen stattfinden, wo auch immer ihr euch befindet. Überall, nur nicht hier, wo es eh' schon jeder wissen sollte.“

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