Odessas Techno-Szene im Krieg: Der Rauch von letzter Nacht
Reportage Odessa zog früher Technofans aus ganz Europa an. Heute wird die ukrainische Stadt am Schwarzen Meer täglich von Raketen beschossen, viele Künstler:innen kämpfen an der Front. Doch die Subkultur lebt trotzdem weiter
Ein Partybesucher in der untergehenden Sonne am Strand von Odessa
Foto: Lieselotte Hasselhoff
In Odessa heult der Fliegeralarm und Sergey – genannt Sergey DJ Agnost – ärgert sich, dass er das Katzenfutter zu Hause vergessen hat. Wie jeden Tag hat Russland auch an diesem Freitag Raketen auf die Schwarzmeerstadt gefeuert, die die Flugabwehr hoffentlich abfangen wird. Cafés, Falafel-Buden, Plätze, Straßen – im Trubel des Nachmittagsverkehrs wird der jammernde Ton der Sirene zum Hintergrundgeräusch, das niemand beachtet. Eine Katze streift um Sergeys Fußgelenke. Sergey liebt Katzen – er fotografiert sie mit seinem Handy, eine ganze Bildersammlung, nur mit Straßenkatzen, hat er dort gespeichert. Außerdem mag Sergey vor allem eines: Musik.
Mindestens 150 Beats pro Minute, Breakbeats und stampfende Bässe – so klingt
so klingt der Underground-Techno der Black Sea Raver, wie Sergey und seine Freunde sich scherzhaft nennen. Ein paar von ihnen, Sergey, Vadym, Nastya, Andrey und Maksya, treffen sich gegen Abend nahe der verfallenen Devolanowski-Straße, dem ehemaligen Rotlichtviertel. Im Halbdunkel leuchten die halb heruntergefallenen Buchstaben von der Wand des ehemaligen Casino Crystal Palace herüber. In dem bröckelnden Gebäude haben die meisten von ihnen ihre erste Svora-Party erlebt – einen Techno-Rave, zu dem laut Veranstaltern vor allem queere Künstler eingeladen wurden.Über Politik reden sie wenigDima, der eigentlich anders heißt, ist Teil der Promo-Gruppe Ulichnaya Svora (dt. „Straßengang“). „Ich führe ein Doppelleben“, sagt er, „meine Arbeitskollegen sollen nicht davon erfahren“. Die Freunde treffen ihn ein paar Straßen weiter im Club Factory Yard. Es ist gerade mal halb acht, aber die Party hat schon vor Stunden begonnen: von 23 Uhr an gilt die Sperrstunde. Im Hof hüpfen ein paar 20-Jährige zu 90er-Jahre-Techno, andere sitzen auf Sofas herum, quatschen und trinken grünen Tee, der in kleinen chinesischen Tassen serviert wird. Für die Black Sea Raver ist das Factory Yard ein Ort, um Freunde zu treffen. Die nächtelangen Raves der Vorkriegszeit können diese Partys nicht ersetzen – zu kommerziell sei die Musik, außerdem fehle seit dem russischen Angriff echte Feierlaune. Auf seinem Smartphone wischt Dima durch ein paar Bilder: eine Fabrikhalle, ein Go-go-Käfig, Menschen in Fetisch, Menschen in Jeans und T-Shirt: Die Svora-Raves fanden an wechselnden Orten statt, meist in der Werkhalle einer Fabrik. „Wir haben ein paar Sicherheitsleute von der Fabrik bestochen, damit sie uns Zugang verschaffen.“ Als Dima das Handy ausschaltet, leuchten für einen Moment kleine Regenbogen auf seinem Display. Er steckt es weg. „Aber jetzt ist nicht die Zeit für solche Partys.“Die Potemkin-Treppen und der Hafen im Stadtzentrum sind militärisches Sperrgebiet. Soldaten und Panzersperren bilden einen starken Kontrast zu dem, worauf Odessas Bewohner so stolz sind: „Das Meer sorgt für eine glückliche Stimmung“, das mache ihre Mentalität aus, sagen sie.Für dieses Flair sind Techno-Fans früher aus Europa und Zentralasien zu den Festivals in der Schwarzmeerregion gereist. Eines der bekanntesten Festivals der Ukraine, das KaZantip auf der Krim, wurde bereits nach der russischen Annexion der Halbinsel im Jahr 2014 in andere Länder verlegt, 2019 gab es in der Region Odessa das letzte Ukr-Tek-Festival, dann kam Corona. Seit Kriegsbeginn finden auch die Svora-Partys nicht mehr statt.Placeholder image-1Odessas Subkultur lebt weiter, aber sie verändert sich. Nastya, Vadym, Sergey, Dima, Andrey – sie alle machen auch jetzt Musik. Das Intro von Sergeys neuestem Livealbum endet mit den Worten „Slava Ukrajini“ (dt. „Ruhm der Ukraine“) und die Partys, auf denen die DJs auflegen, werden oft genutzt, um Spenden zur Unterstützung befreundeter Künstler an der Front zu sammeln. Alles dreht sich um den Krieg. Darauf richtet sich ein Großteil der kreativen Energie. Wo es früher hieß „Break the System“, heißt es jetzt „Fuck you, Putin!“.Über Politik reden die Raver und Musiker ansonsten wenig – jedenfalls nicht im Beisein der Journalistin. Gelegentlich fällt ein Kommentar über die als korrupt und russlandnah geltende Lokalregierung von Odessa, auch die Identifikation mit der Regierung in Kiew scheint sich in Grenzen zu halten – nicht jedoch die mit der ukrainischen Nation: „Ich will den ukrainischen Weg“, sagt der Graffiti-Künstler und DJ Vitalik. Die Ukraine sei Schauplatz eines Machtkampfes zwischen europäisch-amerikanischem Westen und Russland. Vitalik und viele seiner Freunde wollen nicht, dass sich die Ukraine kulturell und politisch einer der beiden Einflusssphären unterordnet. Katya aka DJ KateG sieht es so: „Ich denke, wir sollten an unseren Traditionen festhalten und sie mit etwas Neuem und Frischem aus Europa und den USA kombinieren.“ Das Verhältnis zu Russland halten die Freunde durch den Krieg für nachhaltig beschädigt. Früher hätten sie eng mit russischen Künstlern zusammengearbeitet. Seit Kriegsbeginn herrsche Funkstille.Zwar werden die täglichen Fliegeralarme in Odessa ignoriert und der Alltag nimmt seinen gewohnten Gang. Trotzdem ist der Krieg ständig präsent – vor allem für die Männer, die vielleicht irgendwann ihren Befehl an die Front erhalten werden. Was in Cherson, Charkiw und noch weiter im Osten der Ukraine passiert, ist hier in Odessa mit dem bloßen Verstand schwer zu fassen.„So viele Leichen da draußen“, sagt Alexander Tobiassen, ein Freund der Black Sea Raver, der zu denen gehört, die von der Front zurück sind. Er sitzt in der hinteren Ecke eines Irish Pubs und trinkt einen Kaffee. „Sie verwesen in der Sonne, die Hunde fressen sie. Zwischen den Baumreihen – überall Leichen. Ein ukrainischer Truck: Ich öffne die Autotür, das Fahrzeug ist voll mit Toten, ich drücke die Körper wieder hinein und mache die Tür zu.“ Er ist DJ, Amerikaner und arbeitet als Berufssoldat für das ukrainische Militär. Aus den Boxen im Pub scheppert Dudelsackmusik, Gejubel am Nachbartisch, einer knallt sein Bierglas auf die Tischplatte. Alex’ Oberkörper versteift sich. Seit Juni war er nicht mehr an der Front, zu sehr hätten ihn seine Erlebnisse dort „durchgerüttelt“. Stattdessen bildet er jetzt andere Soldaten aus.Viele Musiker, DJs, Veranstalter sind im Krieg. „Ein Bekannter ist verschwunden“, erzählt Vitalik. Vielleicht ist er gestorben, wir wissen es nicht.“ Ob ihm das Angst macht? „Natürlich habe ich Angst“, sagt er, „alle haben Angst.“ Sergey, Vadym, Vitalik, Dima – sie alle dürfen seit dem 24. Februar die Ukraine nicht mehr verlassen. Und sie wollen kämpfen, wenn es sein muss – sagen sie: „Ich mag keine Cops und ich habe in meinem Leben zu viel Acid genascht, um die Armee zu lieben“, sagt Sergey. „Es ist unmöglich für mich, jemanden zu erschießen, aber jetzt, wo Russland angegriffen hat, müssen wir kämpfen.“Inzwischen ist es fast 22 Uhr. Im Factory Yard endet die Musik. Maksya schlägt vor, die Zeit der Ausgangssperre bei Andrey zu Hause zu verbringen: ein bisschen Kiffen und Musikhören – von 23 bis 5 Uhr morgens. Draußen vor dem Club bestellt Sergey ein Taxi.Dima stoppt die MusikStille umgibt das Häuschen, in dem Andrey wohnt. Im Garten wachsen Tomaten und Kirschbäume. Drinnen, in einem vielleicht acht Quadratmeter großen, schallisolierten Raum, werden auf einem Brett an der Wand die Turntables aufgebaut. Ein altes Bett dient als Sofa. Auf einer Heizung im Bad trocknen Kindersocken. Militärklamotten liegen auf einem Stuhl im Musikzimmer. Ihr Besitzer, Andrey, ist bald eingeschlafen. Sergey und Maksya vertiefen sich in ein Gespräch. Dima vertieft sich in seine Platten. Die lange Nacht wird begleitet von sanften Beats mit gelegentlichen Klängen aus Funk und Soul. Plötzlich, gegen vier: ein Knall, dann noch einer. Das Haus erbebt – zweimal. Das Gespräch verstummt, Dima stoppt die Musik. Die Freunde eilen flüsternd nach draußen. In der Ferne ertönen Schüsse. „Das muss die Flugabwehr sein“, raunt Sergey. Der Telegram-Kanal Odessa-Info wird später berichten, dass zwei russische Iskander-Raketen ein Elektrizitätswerk und eine andere Infrastruktureinrichtung in der Stadt getroffen haben.Placeholder image-2Samstag: Der Rauch von letzter Nacht hat sich verzogen, die Brandung platscht gemütlich gegen ein paar Felsbrocken. Wieder geht ein sonniger Herbsttag zu Ende. Am Strand von Odessa improvisiert Sergey live auf seinem Synthesizer: Breakbeats, mindestens 150 Beats pro Minute und – dank der Bluetooth-Box, die heute für den Sound herhalten muss – ein eher verhaltener Bass. Was hieße es für Odessa, wenn Russland die Stadt erobern würde? Kurz wird es still. „Unmöglich“, sagt einer der Raver. Für ihn ist klar, wenn Russland gewinnt, wird es keine Ukraine und keine freie Subkultur mehr geben. „Wir können auf den Sieg nicht verzichten: Wir bekämpfen einen Albtraum.“ Eine Wasserpfeife aus einer durchlöcherten Plastikflasche macht die Runde. Während die Sonne hinter einem klobigen Hochhaus am Strand verschwindet, stimmt jemand die ukrainische Nationalhymne an. Ab und zu brüllt einer: „Putin chuilo!“ – „Fick dich, Putin!“
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