Die zweite Haut der Frauen

Re:publica Wie eine große Idee aus Indien in 62 Minuten in Deutschland in sich zusammenfällt

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"Love out Loud" – dieses Motto hatte sich unsere Autorin anders vorgestellt
"Love out Loud" – dieses Motto hatte sich unsere Autorin anders vorgestellt

Foto: re:publica/Gregor Fischer (CC)

„Ich frage mich ehrlich gesagt, wieso ich mich hier überhaupt 'reingesetzt habe. Ich komme mir vor wie in einem Marktforschungsinstitut“, schnaubt die junge Frau in der Reihe hinter mir. Kopfschüttelnd packt sie ihre Tasche und verlässt wenige Minuten später den Raum. Entsetzte Blicke folgen ihr bis zur Tür. Vorher raunt sie mir noch zu: „Es fühlt sich an, als hätten zwei kleine Inder eine große Idee und wollen jetzt den europäischen Blickwinkel benutzen, um ihr Produkt zu optimieren.“ Zu perplex, um etwas zu antworten, sehe ich ihr hinterher, wie sie mit wehendem Haar und schnellen Schritten den Raum verlässt.

50 Minuten zuvor. Ich betrete den kleinen, kahlen Raum auf dem re:publica-Messegelände. Ein netter junger Mann erklärt mit deutschem Akzent, dass der Workshop auf Englisch stattfinden wird. Mein Blick fällt auf das Plakat am seitlichen Rand der Bühne. Grelles Orange und Neon-Pink ergaunern sich die Blicke der Besucher und sollen wohl ein Gefühl von Wärme und Offenheit vermitteln. Auf den quietschbunten Hintergrund sind in dicken, weißen Lettern drei Worte gedruckt: LOVE OUT LOUD, der Slogan der re:publica. Das klingt doch erst einmal ganz gut.

Der nette Mann ist offensichtlich in so etwas wie die Moderatorenrolle geschlüpft. Er eröffnet seine Power Point Präsentation mit der Darstellung eines Zeitplans, der deutscher nicht sein könnte. Drei Minuten sind für ein kurzes Intro eingeplant, sieben Minuten für die Beschreibung des Projektes, 15 für die Diskussion und so weiter. Ich grinse in mich hinein und schließe eine Wette mit mir selbst ab: Die Beschreibung wird mindestens 8 Minuten dauern. Win.

Ein kleiner Zeitplan für eine große Idee

Nach einem fast sechsminütigen Intro durch den Moderator, der sich in der Zwischenzeit als Data-Researcher geoutet hat, stellt die indische Modedesignerin und Gründerin von Digitally Speaking Nidhi Mittal den Prototypen ihres Produkts vor. Es handelt sich um funktionale Unterwäsche für Frauen, die mit einer besonderen Technologie ausgestattet ist, um sie auf dem nächtlichen Heimweg vor Überfällen oder Schlimmerem zu schützen. Sie nennt sie die „zweite Haut der Frauen“. Im Nacken soll eine kleine Kamera eingelassen werden, die mit einem Mini-Display am linken Ärmel verbunden ist. So können bei Aktivierung des Programms nächtliche Verfolger vom Opfer aufgenommen und beobachtet werden. Im Falle eines Angriffs sollen Frauen über einen Notfallknopf ihren Standort und einen Notruf abgeben können, so dass ihnen schnellstmöglich jemand zur Hilfe eilt. Vor allem die weiblichen Besucher des Workshops heben die Köpfe, das allgemeine Interesse ist geweckt.

Doch die Realität sieht leider etwas anders aus. Aufgrund der datenschutzrechtlichen Bestimmungen funktioniert Nidhis Prototyp noch nicht in Gänze. Gemeinsam mit ihrem Partner Avik Dhupar rollt sie eine Schneiderpuppe auf die Bühne, welche den aktuellsten Prototyp ihres Projekts trägt. Der synthetische, schwarze Stoff der Unterwäsche schmiegt sich eng an den Körper der Puppe und erinnert eher an billige Fahrradhosen. Ausgestattet sind diese bisher nur mit dem sogenannten Notfallknopf. Auf die Frage, wen dieser Knopf informiert, erklärt Nidhi, dass der Notruf an die Eltern weitergeleitet wird. Die allgemeine Ungläubigkeit kann sie schnell entkräften. Polizei und höhere Instanzen in Indien seien nicht vertrauenswürdig.

Es folgen 30 Minuten voller Fragen, Diskussionen und Missverständnissen. Was passiert, wenn die Eltern nicht zu Hause sind, um den Notruf zu empfangen? Was passiert bei einem Angriff innerhalb des Büros oder sogar der Familie? Was zeigt die Kamera, wenn es draußen sehr dunkel ist? Kann jemand die Videodaten für seine persönlichen Zwecke missbrauchen? Wer kontrolliert die Reaktionen von Freunden und Familie? Wieso wird nicht eine Person kontaktiert, die sich in unmittelbarer Nähe befindet? Nidhi Mittals Idee wird regelrecht zerpflückt. Hier und da fallen Sätze wie „Ich denke nicht, dass dieses Produkt in Deutschland wirklich funktioniert“ oder „In Indien herrscht eine andere Grundlage“.

Marktforschung in Workshopatmosphäre

Gemeinsam werden die Probleme und dazu passende Lösungsvorschläge vom Publikum erarbeitet. Auf kleinen blauen Karteikarten stehen Vorschläge wie "Videos werden nur auf der Kamera gespeichert und wie bei Snapchat nach wenigen Sekunden gelöscht" oder "Jede Kontrolle liegt in der Hand des Opfers". In einem halbminütigen Fazit erklärt uns der nette Moderator, dass er in den letzten Monaten eine Doktorarbeit zu eben diesem Thema verfasst hat. Es freue ihn, dass wir als „Laien“ sehr viele seiner Vorschläge nennen konnten, denn das beweise, dass nicht nur Juristen eine funktionierende Privacy-by-Design Lösung finden könnten. Mhh, alles klar.

Während die Zuhörer geschäftig den Raum verlassen und die ersten Besucher des nächsten Panels bereits die frei gewordenen Sitzplätze stürmen, bleibe ich mit einem mulmigen Gefühl im Bauch zurück: Das Prinzip von "Love out Loud" habe ich mir irgendwie anders vorgestellt.

Dieser Beitrag enstand im Seminar "Onlinejournalismus" der Akademie Mode & Design


Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Lilian Engelhardt

Studentin und freie Autorin

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