Srebrenica vergessen dürfen nur die Opfer

Gedenken Vor 25 Jahren begingen bosnisch-serbische Soldaten ein Genozid mitten in Europa. Der serbische Präsident will davon jetzt nichts mehr wissen
Ausgabe 30/2020
Ratko Mladićs Lachen war unheimlich. Vor Gericht klang es aber nicht mehr bedrohlich
Ratko Mladićs Lachen war unheimlich. Vor Gericht klang es aber nicht mehr bedrohlich

Foto: Andrej Isakovic/AFP/Getty Images

Dieser Tage, fünfundzwanzig Jahre nach dem Völkermord in Srebrenica, anlässlich des „runden Jubiläums“, erinnert sich die Welt an dieses schreckliche Massaker und blickt mitunter verschämt zurück. Die damaligen Ereignisse werden analysiert, Journalist*innen zählen Fakten auf, Schriftsteller*innen schreiben Essays, Politiker*innen machen Versprechen, bitten um Vergebung, sprechen ihr Beileid aus, manche weinen sogar und bedauern, dass nichts unternommen wurde, um den Völkermord zu verhindern.

All diese Worte, egal ob sie aufrichtig gemeint sind oder nicht, verlieren jegliche Relevanz, wenn man die Geschichten der Menschen hört, deren Schicksal Srebrenica wurde. Etwa die Geschichte von N.N., ehemalige Gefangene des Lagers Srebrenica: „Als die Morgendämmerung einbrach, sagte ich zu meiner Freundin, dass ich Wasser holen gehe. (…) Ich lief hinter einen Lastwagen und sah 5-6 Menschen ohne Köpfe, die geschlachtet worden waren. Ich drehte mich um und sah hinter dem Lastwagen vier Tschetniks (serbische Soldaten) sitzen und trinken. Zwei Frauen tauchten auf, eine war schwanger. Einer der Tschetniks fragte wütend, woher sie kamen, und die Frauen zeigten nur auf eine Flasche Wasser. Dann stand der andere auf, packte die schwangere Frau an den Haaren und riss ihren Bauch mit einem Messer auf, aus dem er zwei Babys herausholte. Ich hörte, wie sie noch sagte: `Mutter, rette mich.´ Mehr sagte sie nicht. Ich rannte zurück in die Fabrik, ohne Wasser geholt zu haben.“

Um das Ganze zu verstehen, muss man vielleicht auch mal die andere Seite betrachten, zum Beispiel die Seite des Generals Radko Mladić, der vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag unter Anklage steht. Der General jedenfalls fährt gerade nach Sarajevo, während er per Funk einen Befehl erteilt. Danach wendet er sich an seinen Beifahrer: „Immer wenn ich nach Sarajevo fahre, mache ich kurz Halt und töte jemanden“. Während er weiterspricht, hört man sein kratziges, triumphierendes, bedrohliches Lachen: „Ich bringe die Türken um, die sollen sich ficken ...“. Als die Audio-Aufnahme dieser Szene im Gerichtssaal abgespielt wird, lacht der Angeklagte, diesmal mit einem heiseren, unheimlichen Lachen, aber zu diesem Zeitpunkt wissen wir bereits, dass sein Lachen nicht mehr bedrohlich ist. Er wird zu lebenslanger Haft verurteilt.

Welche neuen Beweise?

Ich weiß noch, dass ich damals die Bilder von ihm in der Zeitung sah. Ungläubig betrachtete ich sein fleischiges Gesicht mit dem immer stumpfen, verwirrten Blick – wer war dieser monströse, menschenähnliche Mann, der zu Taten fähig war, zu denen nur wenige fähig sind; der es schaffte, ein Massaker an über achttausend Menschen, alten Männern, Frauen und Kindern zu organisieren? Für ihn machte es keinen Unterschied, wen er tötete, es war ihm egal, Hauptsache, sie waren tot. Und seine Männer, die genauso wie der General selbst von vielen Serben immer noch als Helden gefeiert werden, weil sie sich für die „serbische Sache“ opferten, taten, was er ihnen befahl.

Genauso ungläubig schaute ich vor wenigen Tagen zu, wie der serbische Präsident Aleksander Vučićin der Fernsehsendung „Hit tvit“ voller Zuversicht äußerte: „Wir müssen diese schrecklichen Tage vergessen und nach vorne schreiten“. Vergessen? Nach vorne schreiten? Man stelle sich mal vor, wie eine der Frauen, die im Zuge der ethnischen Säuberungen in Srebrenica systematisch vergewaltigt wurden, diesen Satz hört. Oder gar, wie der Präsident der serbischen Republik Srpska in Bosnien, Milorad Dodlik, das Massaker als „Mythos“ bezeichnet. Oder wie der bosnisch-serbischen Bürgermeister von Srebrenica, Mladen Grujičić, behauptet, es gebe „täglich neue Beweise, die die derzeitige Darstellung von allem, was passiert ist, widerlegen“.

Es ist nicht schwer, zu definieren, was ein Genozid ist, nämlich die Absicht, auf direkte oder indirekte Weise „eine nationale, ethnische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Viel schwerer hingegen ist es, zu verstehen, wie ein Menschenleben hätte verlaufen können, hätte es den Genozid nicht gegeben. Wie ein ganzes Volk sich fühlen würde, wenn es nicht in der Gewissheit leben müsste, dass es einen ernsthaften Versuch gegeben hat, es auszulöschen, zum Verschwinden zu bringen. Wie Menschen imstande sein können, anderen Menschen solche Dinge anzutun, wie sie in Srebrenica getan wurden. Vielleicht ist es da nur natürlich, das Grauen zu leugnen, weil es unsere Vorstellungskraft übersteigt, vielleicht aber ist dieses Leugnen nur die Forstsetzung genau desjenigen Denkens, das überhaupt zum Genozid geführt hat.

Und deswegen sind gutgemeinte Worte nicht genug. Anstelle aller Beteuerungen und Gesten der Empathie, insbesondere während dieses runden Jahrestages des menschlichen Leidens, sollten Taten folgen. Es sollten all diejenigen zur Verantwortung gezogen werden, die immer noch verhindern, dass Gerechtigkeit, Wahrheit und Versöhnung herrschen. Und die Entscheidung, wer was wann vergessen soll, sollten wir besser den Opfern überlassen. Falls sie dazu jemals bereit sein sollten.

Lina Muzur wurde 1980 in Sarajewo geboren und ist seit diesem Jahr Verlagsleiterin bei Hanser Berlin

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