Adieu Schuldenbremse

COVID-19 Frankreichs Präsident Macron will den Kampf gegen das Corona-Virus mit einem starken Sozialstaat an seiner Seite führen. Selbst die Rentenreform wird plötzlich ausgesetzt
Macron „im Krieg“ gegen das Coronavirus
Macron „im Krieg“ gegen das Coronavirus

Foto: Thibault Camus/Pool/AFP via Getty Images

„Nous sommes en guerre“, wir sind im Krieg, so Präsident Emmanuel Macron Anfang der Woche, als er auch dem letzten Franzosen beizubringen versucht, dass er zuhause bleiben soll. Am Wochenende zuvor sieht es in Paris aus wie an einem normalen sonnigen Frühlingstag: Überall sind Menschen zusammen, an den Ufern der Seine, in Parks und Cafés. Sie strömen auf Märkte und Spielplätze: Savoir-vivre und Laisser-faire.

Vielleicht sind alle auch deshalb so unbesorgt, weil ihr Präsident sie kurz zuvor gebeten hat, an die Wahlurnen zu gehen, um sich unter strengen Hygienevorschriften an der ersten Runde der Kommunalwahlen zu beteiligen. Dies sei – trotz der Umstände – republikanische Pflicht eines jeden Citoyen, einer jeden Citoyenne. Tatsächlich tragen am Wahltag die Wahlhelfer Masken. Es gibt reichlich Desinfektionsmittel auf die Hände, immer wieder wird in den Wahlkabinen gesprüht und gewischt.

Als wären Sommerferien

Die Bilder der offenbar sorglosen Bevölkerung in Frankreich gehen um die Welt. Im chinesischen wie italienischen Fernsehen gibt es Unverständnis, ja Empörung über Wahlen in Zeiten des Virus. In den französischen Medien werden danach die Ergebnisse analysiert, die Erfolge der Grünen hervorgehoben – es gibt Porträts von Bürgermeistern, die bereits in der ersten Runde die absolute Mehrheit holen, darunter einige Kandidaten des rechtsextremen Rassemblement National (RN).

Gleichzeitig wird die Frage laut, wie repräsentativ die Ergebnisse bei nur 45 Prozent Wahlbeteiligung überhaupt sein können. Mitte der Woche ist klar: Es geht nicht weiter, und nicht nur das. Präsident Macron tut, was französische Präsidenten in Krisenzeiten zu tun pflegen: keine nüchterne Einschätzung à la Angela Merkel, sondern eindringliche Appelle, große Worte, demonstrative Führungsstärke und am Ende das obligate „Vive la République, vive la France!“.

Nach Macrons Rede hat man den Eindruck, viele Franzosen würden wie im Juli in die Ferien aufbrechen. Staus rund um die Hauptstadt, Andrang auf Bahntickets, wer irgendwo ein Landhaus hat, zieht sich zurück, nicht ohne vorher ein paar Flaschen Wein einzukaufen. Und nach einem Abstecher in die Apotheke.

In den sozialen Medien lancieren die Leute Initiativen, bieten Hilfe an und teilen den Aufruf, zu Hause zu bleiben. Daneben jede Menge humorvolle Kommentare, Fotos, Memes und viel Häme gegenüber Macron, der plötzlich sein sozialistisches Herz entdeckt habe. Tatsächlich: Die politische Dimension des Krisenmanagements überrascht. Denn neben den Einschränkungen des öffentlichen Lebens, der Ausgangssperre und der Mobilisierung des Militärs klingt noch etwas anderes durch: die Abkehr von der Doktrin, dass der Markt alles regelt.

Abschied vom Dogma

Schon bei der ersten großen Fernsehansprache vergangene Woche hatten sich viele verwundert die Augen gerieben, als Macron verkündete: „Morgen müssen wir die Lehren ziehen aus dem, was wir gegenwärtig durchmachen, das Entwicklungsmodell hinterfragen, in das sich unsere Welt seit Jahrzehnten verwickelt hat und dessen Mängel nun ans Licht kommen, die Schwächen unserer Demokratien hinterfragen. Eines hat sich durch diese Pandemie schon jetzt herausgestellt: Die kostenlose Gesundheitsversorgung, unabhängig von Einkommen, Stellung und Beruf, unser Sozialstaat sind keine Kosten oder Lasten, sondern wertvolle Güter, unverzichtbare Trümpfe, wenn das Schicksal zuschlägt. Diese Pandemie hat jetzt schon deutlich gemacht, dass es Güter und Dienstleistungen gibt, die außerhalb der Marktgesetze gestellt werden müssen.“ Und weiter: „Die kommenden Wochen und Monate werden Entscheidungen erfordern, die in diesem Sinne einen Bruch darstellen. Ich werde die Sache in die Hand nehmen.“

In dieser Woche nun geht der Präsident noch einen Schritt weiter: Alle Reformen, allen voran die des Rentensystems, seien ausgesetzt. Jedem Franzosen, jeder Französin sichert er finanzielle Unterstützung zu, damit keiner durch die Krise den Job verlieren oder Engpässe erleiden werde – sei es bei der Strom- oder der Gasversorgung. Selbst die Mieten können ausgesetzt werden. Unternehmen, Selbstständige, wer immer nach dem Staat rufe, solle gehört werden. In der Quarantäne sei überdies Zeit, sich auf die Bedeutung von Bildung und Kultur zu besinnen. Gerade in diesen beiden Bereichen gab es noch vor kurzem einen Aufschrei über den Aderlass, über Kürzungen, fehlende Investitionen. Und nun soll sich das alles ändern?

Wegweiser für die EU

Macrons Ankündigungen sind auch ein Wegweiser für die EU. Er, der Superreformer, den die Gelbwesten als Präsidenten der Superreichen schelten, ruft nun nach einem starken Staat. Adieu Schuldenbremse und Austeritätspolitik. Erfüllte Macron in der ersten Hälfte seiner Amtszeit selbst die geheimsten Reformwünsche der Konservativen, lesen sich seine nun verkündeten wirtschaftlichen und politischen Forderungen fast wie das Programm des linksradikalen Nouveau Parti Anticapitaliste. Und Macron zu kritisieren, ist derzeit riskant. Als die konservative Politikerin Nadine Morano in der Wahlsendung nicht mit Kritik an der Regierung sparte, wurde sie sogar von einem eingeladenen Virologen zurechtgewiesen, der ihr Verantwortungslosigkeit vorwarf.

Die Wahlergebnisse sind längst ein Randthema oder werden mit der Frage verknüpft, wie sich darin die Corona-Krise spiegelt. So liegt in Paris die amtierende Bürgermeisterin, Anne Hidalgo, deutlich vorn. Sie hat sich in den letzten sechs Jahren schon oft als Krisenmanagerin bewährt: nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt im Januar 2015, nach der Terrornacht vom 13. November wenige Monate später mit über 130 Toten, nach zwei bedeutenden Überschwemmungen, mehreren Hitzewellen und schließlich dem Brand der Kathedrale Notre-Dame.

Schwanken, nicht untergehen

Immer eilt die Sozialdemokratin sofort an die Orte des Geschehens, findet tröstende Worte, behält die Contenance, verfällt weder in Panik noch vorschnelle Schlussfolgerungen. Das klingt nach der Devise, die schon dem mittelalterlichen Wappen der Stadt eingeschrieben war: «Fluctuat nec mergitur» (Sie schwankt, aber sie geht nicht unter).

Und gerade weil im zentralistischen Frankreich alles in Paris entschieden wird, kommt Hidalgo in diesen Tagen wieder eine wichtige Rolle zu. Vielleicht passt zu Macrons neuer Doktrin auch, dass Hidalgo schon lange vor dem Ausverkauf der Stadt gewarnt hat. Ob Uber oder Airbnb, es ging ihr darum, das Leben in einer der teuersten Metropolen der Welt auch für jene erschwinglich zu halten, die hier arbeiten. Touristen und ausländischen Spekulanten müsse man härter begegnen. Nun wird es darüber hinaus viel um das Gesundheitssystem gehen, um die Lage der Pariser Krankenhäuser.

Wenn es Macron mit seinen Ankündigungen ernst meint, muss er damit rechnen, dass ihn eine Politikerin wie Anne Hidalgo, wenn der Höhepunkt der Krise überwunden ist, an seine Versprechen erinnert. Doch wer denkt heute schon an das ungewisse Morgen? Wie es politisch mit Frankreich weitergeht, und wie viel vom Linksschwenk Macrons übrig bleibt, werden wir erst sagen können, wenn die Zwangspause vorbei ist. Jetzt aber geht erst einmal nichts mehr – rien ne va plus.

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Geschrieben von

Romy Straßenburg

Lebt als freie Journalistin in Paris. Ihr Buch "Adieu Liberté - Wie mein Frankreich verschwand" ist im Ullstein-Verlag erschienen.

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